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Die letzten Dinge - Roman

Die letzten Dinge - Roman

Titel: Die letzten Dinge - Roman
Autoren: Bastei Lübbe
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gedacht, ich gehe wieder zurück, aber ich will ja nicht bei meinen Eltern wohnen und da habe ich es geschafft, erstmal hier ein Zimmer zu kriegen, und muss nicht ins Dorf zurück und da kann ich mich erst mal um alles kümmern und habe Geld und …
    Wieso, wo wohnst du denn?
    Ich habe HIER ein Zimmer gekriegt, unter dem Dach.
    Du wohnst im ALTERSHEIM?
    Na ja, das Zimmer ist ganz schön, es hat ein rundes Fenster und du hast einen Blick über die ganze Stadt! Es sieht aus wie in dem Film »Die verbotene Tür« von dem Opernhaus da in Paris, also es sieht ein bisschen aus wie über den Dächern von Paris.
    Aber dafür wohnst du im ALTERSHEIM!
    Na ja, es ist billig. Und irgendwas ist ja immer.
    Was hast du denn gelernt?
    Ich hatte Krankengymnastin angefangen. Also, nicht fertig gemacht. Wegen dem Brian. Ich bin vom Campingplatz aus – gleich – mit zu ihm.
    Ivy schüttete den Kaffee in einem Zug in seinen großen Mund. Seine Haare waren dunkel und seine Augen ebenso. Eine südländische Variante von Marlon.
    Das war auch immer mein Problem. Ich kann einfach nix fertig machen. Ich halte keine Ausbildung durch. Kann mir einfach nix sagen lassen.
    Bist du kein richtiger Pfleger?
    Nur Pflegehelfer. Aber ich arbeite wie sieben Pfleger zusammen. Das kannst du mir glauben. Wenn ich könnte, wäre ich gerne Polizist. Aber zu spät.
    Wieso denn, fragte Lotta. – Kannst du dich doch immer noch bewerben.
    Nö, mit 28 ist es zu spät, da nehmen sie einen nicht mehr. Ich war genau vier Wochen zu spät.
    Ah. Pech. Sag mal – Was ist los mit Herrn Kurtacker? Wieso sperrt ihr ihn ein?
    Ou Mensch, der. Das ist ein Fall für sich. Wir sperren ihn nicht ein. Der sperrt uns aus. Wir gehen nur zum Essenbringen rein.
    Ach so.
    Ich muss los.
    Ivy löste sich von der Wand und ging, Schritt für Schritt. Er musste sich ein Hähnchen holen. Er musste eine halbe Stunde schlafen. Er wollte sich ein Hähnchen holen UND schlafen. Bei Frau Sturm. Er legte sich ein wenig bei Frau Sturm auf das Sofa. Wenn er jetzt nicht schlief, konnte er unmöglich all die Leute ins Bett bringen. Sie hätten den Tequila nicht trinken sollen. Wenn er zu Frau Sturm kam, dann freute sie sich wie verrückt. Sie würde ihn zudecken und ein Kissen zurechtstopfen und Schmiere stehen. Wenn Rosalinde kam, dann sagte Frau Sturm, sie bräuchte eine neue Windel, diese lief davon und in der Zeit weckte sie Ivy. Sie waren ein eingespieltes Team, Frau Sturm und er, sie würde ihn niemals verpfeifen, nie. Er war schließlich ihr Liebling, ein großer Liebling, der Liebling aller. Und wenn er wieder beisammen war und den Dienst geschafft hatte, dann ging er wieder ins Brother Louie und würde Fredderik suchen und wenn er ihn gefunden hatte, dann würde er ihn zugrunde richten, heute Nacht.

Jewgeni Schiwrin   war ein Männlein mit feuerrotem Haar. Sein Mund war verschlossen, seit langer Zeit. Dabei hatte er mit fünfzig noch Deutsch gelernt, und er hatte sich auch unterhalten. In Kassel, im Knüllwald, als sie die großen Tunnels gebaut hatten für den ICE, da war er dabei gewesen, als Ingenieur, Schiwrin hatte sich durchgesetzt wegen seines Fachwissens, da waren Sprachen kein Hindernis, er war eben gut. Wenn er sich jetzt erinnerte, stand er immer noch im Tunnel und prüfte die Stahlkonstruktionen, ICE-Strecke Kassel–Göttingen, das war sein Stolz gewesen, sein Meisterwerk, seine Reifeprüfung in Deutschland. Aber er fand nicht mehr die Worte, um den Tunnel zu beschreiben. Über die Tunnels hatte er seine Familie vergessen. Das warfen sie ihm vor. Sie hatten ihm immer alles Mögliche vorgeworfen, er hatte nie zugehört und sich in seine Tunnels vergraben. So hatte er auch nicht bemerkt, wann seine Frau und seine beiden Töchter ihn langsam ausgestoßen hatten aus der Familie. Vielleicht war es das feuerrote Haar, mit dem sie ihn immer gehänselt hatten. Das Haar quoll wie Werg hervor, wie geknautschtes Rosshaar, es ließ sich nicht richten, nicht kämmen, es quoll nur immer weiter; wellig und trocken wie Holzwolle, saß es wie eine Mütze auf seinem Haupt. Dazu rote Augenbrauen und eine rote Haut, die sich ständig schuppte, nur seine Brille war schwarz gerandet und seine Augen waren trübe. Er war kein Mann, kein Goliath, vielleicht hatte seine Frau sich selber nie verziehen, dass sie ihm gefolgt war, gefolgt in die Ehe und gefolgt nach Deutschland. Sie hätte einen besseren haben können, ganz bestimmt. Seine Töchter waren verschieden. Die eine schneewittchengleich und
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