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Die letzte Reifung

Die letzte Reifung

Titel: Die letzte Reifung
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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eine Spur säuerlich.
    »Madame Poincaré? Ich bin es, der Herr Professor aus Hamburg. Ihre Kühe scheinen mir derangiert.«
    Keine Antwort.
    Bietigheim öffnete die aus den Angeln hängende Holztür in der gegenüberliegenden Wand und fand sich in einer hutzeligen Küche wieder. Er rief nochmals, doch wieder keine Reaktion. Er musste weitersuchen. Wie sich herausstellte, hatte das Haus nur fünf Zimmer, und sie alle wirkten auf merkwürdige Art zu klein, wie ein alter Apfel, der mit der Zeit eingeschrumpelt war.
    Die Käserin musste außer Haus sein, dachte Bietigheim, vielleicht besorgte sie noch Kaffee für den bevorstehenden Besuch aus Deutschland. Ob es unhöflich wäre, im Haus auf sie zu warten? Ach was, die Tür zum Stall hatte ja einladend offen gestanden, und das Gatter war auch nicht wirklich abgeschlossen gewesen. Falls sie dennoch verärgert wäre, würde ein schmachtender Blick Bennos sicher genügen, um sie weich zu klopfen.
    Doch sie kam nicht, geschlagene zwei Stunden lang.
    Egal, wie oft Bietigheim auf seine Taschenuhr schaute, die Zeiger drehten sich nicht zurück. Madame Poincaré hatte ihn versetzt. Seufzend erhob er sich, bereit für den Weg zurück zum Fahrrad, als ihm der schwere rote Vorhang auffiel, der in der dunkelsten Ecke des Zimmers hing. Der Professor hatte ihn vorher kaum beachtet, doch als Benno nun aufstand, bewegte der Vorhang sich zur Seite – und eine metallene Tür wurde sichtbar.
    Da war sie wieder, die Neugierde!
    Bietigheim schob den Vorhang fort und schaute sich nervös um, als verstieße er gegen ein Gesetz. Die Tür war eine Sonderanfertigung und passte genau in das alte Mauerwerk. Der Schlüssel steckte, und der Professor drehte ihn ohne Zögern um.
    Hinter der Tür erwartete ihn Kälte, die mit dem Duft nach köstlichem Vacherin d'Epoigey geschwängert war. Der Reifekeller! Und endlich fand er auch Madame Poincaré. Hier, wo Hunderte von Tannenrinden umschlossene Käseleiber vor sich hinreiften. Die Käserin hatte auch ihr großes Käsemesser bei sich.
    Es steckte in ihrem Rücken.
    Und sie selbst lag vornüber in einer Blutlache. Sie war tot, das wusste Bietigheim sofort.
    Ein Kloß bildete sich in seinem Hals. Nach einigen tiefen Atemzügen kniete er sich neben die alte Frau. Er wollte ihr die Augen schließen, beschloss dann jedoch, die Leiche besser nicht zu berühren.
    Was für ein schrecklicher Tod.
    Bietigheim zitterte am ganzen Leib, als er aufstand und das Telefon suchte. Er fand es schließlich in einer Schublade und rief die Polizei. Sein Atem war immer noch schwer, als er wieder auflegte. Diese arme Frau, wer tat einer greisen Käserin so etwas Grausames an?
    Dann hörte er die Kühe. Sie muhten nicht, sie schrien fast schon, ihre Euter waren jetzt bestimmt zum Platzen gefüllt. Die Tiere mussten von ihrem Leiden erlöst werden, und das duldete keinen Aufschub. Entschlossen krempelte der Professor die Ärmel hoch und ging in den Stall, denn genau das hätte Madame Poincaré gewollt. Bevor er sich den Schemel umschnallte und sich an den ersten Euter begab, rieb Bietigheim sich die Hände warm. »Sei leise und mach brav sitz!«, sagte er zu Benno von Saber, woraufhin der Foxterrier kläffend hinausrannte.
    Als die Staatsmacht eintraf, war das Melken noch lange nicht erledigt. Bietigheim fehlte die Übung. Vor Jahren hatte er mit seinen Studenten ein Praktikum in einer südholsteinischen Käserei absolviert, doch die Fingerfertigkeit war ihm abhandengekommen. Die Euterzitzen verhielten sich beträchtlich flutschiger als in seiner Erinnerung.
    »Herr Professor, stehen Sie bitte auf.«
    Benno fing an zu kläffen und nahm das rechte Hosenbein des Eindringlings ins Visier.
    Bietigheim blickte auf. Es war der junge Polizist aus Vosne-Romanée mit Namen Benoit.
    »Mein herzliches Beileid zum Tod Ihrer Großtante!«, sagte Bietigheim und wollte aufstehen, um ihm die Hand zu reichen, überlegte es sich dann aber anders. Die Kuh vor ihm musste dringend zu Ende gemolken werden.
    »Erheben Sie sich bitte.« Die Augen des jungen Mannes waren feucht, die Lippen aufeinandergepresst.
    »Lassen Sie mich doch bitte diesen Euter …«
    »Stehen Sie bitte sofort auf! Die Hände so, dass ich sie sehen kann.«
    »Sie sehen sie doch. Ich habe sie an den Zitzen!«
    Der Gendarme friemelte an seinem Pistolenhalter.
    Bietigheim wurde zornig. »Sehen Sie denn nicht, dass die Tiere leiden? Wollen Sie vielleicht an meiner Stelle weitermelken?«
    »Ich ermittle in einem Mordfall!«
    »Und
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