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Die letzte Reifung

Die letzte Reifung

Titel: Die letzte Reifung
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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das hier ist ein Not fall!«
    Es entstand ein Moment unangenehmer Stille, nur gestört von dem auffordernden Muhen der Kuh direkt vor dem Professor.
    »Soll ich jetzt weitermelken, oder nicht? Ich muss das nicht tun, ich habe studiert. Sogar in Oxford!«
    Der Polizist verschränkte unsicher die Arme vor der schmächtigen Brust. »Wann haben Sie die Leiche meiner Großtante aufgefunden? Und in welchem Zustand?«
    »In welchem Zustand? Sie war tot!« Es tat Bietigheim überhaupt nicht leid, so barsch reagiert zu haben. Die Frage war saublöd gewesen.
    Nun trat der junge Polizist näher und baute sich neben der vor Bietigheim stehenden Kuh auf. »Wollen Sie mir die Arbeit schwer machen? Das kann ich auch!« Er legte eine Hand auf das Hinterteil der Kuh. »Wenn ich Marie einen Klaps gebe, genau hierhin, dann wird sie austreten, und zwar in Ihr Professorengesicht.«
    Bietigheim ließ die Zitzen Zitzen sein und erhob sich vom Schemel. Das heißt: Er erhob sich mit dem Schemel, denn diesen hatte er ja umgeschnallt. Dann blickte er dem Gendarmen in die nervös zuckenden Pupillen. »Hören Sie, junger Mann, wir haben irgendwie einen schlechten Start erwischt. Was mich bei einem so schrecklichen Todesfall nicht verwundert. Ich teile Ihnen jetzt mit, wo Sie Ihre Großtante finden. Und dann reden wir weiter. Ich habe die Leiche vor …«, er blickte auf seine Taschenuhr, »achtzehn Minuten gefunden. Damit Sie von der Polizei den Tatort unverändert vorfinden, habe ich Ihre Großtante noch nicht einmal umgedreht, um ihr die Augen zu verschließen.«
    Der Polizist nickte. »Das habe ich gesehen – ich war nämlich schon bei ihr. Da ich im Besitz eines Haustürschlüssels bin. Sie aber nicht. Sie haben sich unbefugt Zutritt zum Haus meiner Großtante verschafft, nicht wahr?« Er zückte ein schwarzes Notizbuch.
    »Ich verschaffe mir niemals Zutritt zu Häusern! Meist werde ich eingelassen, und in diesem Fall stand die Tür einladend offen.«
    »Die Haustür?«
    »Nein, selbstverständlich nicht, Sie dummer Mensch. Die des Stalles, und von diesem der Zugang zur Käserei. Sowie – natürlich – zum Reifekeller.«
    »Haben Sie mich gerade …?«
    Bevor Bietigheim antworten konnte, trat ein weiterer Mann in den Kuhstall. Er hatte ein gepflegtes Äußeres. Die Ärmel seines gestärkten hellblauen Hemdes waren hochgekrempelt und gaben den Blick auf muskulöse Unterarme frei, von denen in Büscheln die Haare abstanden. Dadurch wirkte er wie ein frisch geschorener Orang-Utan – bei dem aus Versehen die Unterarme vergessen worden waren.
    »Ich darf mich kurz vorstellen«, sagte der Mann, nachdem er dem jungen Polizisten zugenickt hatte. »Ich bin der amtierende Bürgermeister, Jules Bigot.«
    Bietigheim verbeugte sich kurz und stellte sich ebenfalls vor. »Ich würde Ihnen ja gerne die Hand geben, aber die ist zurzeit …«
    »Jaja, das sehe ich. Benoit, sei ein guter Junge und zeig mir schnell die … du weißt schon. Du hast die Zeitung doch sicher noch nicht informiert, oder?«
    »Nein, aber die lokale Presse wird routinemäßig von der Pressestelle in Dijon über Gewaltverbrechen in Kenntnis gesetzt.«
    »Na, nun schauen wir uns erst einmal deine Großtante an, ob es überhaupt ein Gewaltverbrechen war. Da gibt es ja immer … Interpretationsspielraum. Und Sie da bei der Kuh: immer schön weitermachen, nicht?«
    »Wollen Sie vielleicht übernehmen?«
    »Nein, danke. Sie machen das fabelhaft, ganz fabelhaft. Vor allem für einen Ausländer.«
    Bietigheim nahm die frisch gemolkene Milch und goss sie in eine große metallene Kanne, führte die Kuh zurück an ihren Platz und holte die nächste zum Melken. Benno von Saber schien mittlerweile Gefallen an seiner Rolle als Hütehund gefunden zu haben und rannte permanent um die Kühe herum.
    Was diese gänzlich unbeeindruckt ließ.
    Nach kurzer Zeit kamen Dorfpolizist und Dorfbürgermeister zurück. Letzterer schüttelte den Kopf und kratzte ihn sich dabei. Er nahm die Hand gar nicht mehr herunter, als helfe das Kratzen beim Denken.
    »Solch ein Unglück.«
    »Wer könnte denn ein Motiv gehabt haben, die arme Frau umzubringen?«, fragte Bietigheim, dem mittlerweile die Finger schmerzten.
    »Wo denken Sie hin, Professor?«, fragte der Bürgermeister erstaunt und setzte das Kratzen am Ohrläppchen fort. »Das war ein schrecklicher Unfall! Die Ärmste muss gefallen sein. So was kann in ihrem Alter ja schnell passieren.«
    »Gefallen? Mit dem Rücken in ein Messer? Und dann liegt sie mit dem
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