Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die letzte Reifung

Die letzte Reifung

Titel: Die letzte Reifung
Autoren: Carsten Sebastian Henn
Vom Netzwerk:
Dorfbürgermeister ihm gedroht hatte, sondern weil es Madame Poincarés Andenken zu schützen galt. Dieser Mord durfte nicht vertuscht werden. So viel war er dieser Göttin des Käses schuldig! Und da ihm das Geld für eine zusätzliche Übernachtung zu schade war, musste er wohl oder übel zu Jan oder Jean, wie er sich in Frankreich nannte.
    Zu behaupten, Jan wäre das schwarze Schaf der Verwandtschaft, würde die Farbenlehre verunglimpfen. Er war das bunt gescheckte. Bietigheim hatte ihn auf dem letzten großen Familientreffen kennengelernt. Alle vier Jahre versammelten sich die Bietigheims und ihre unzähligen Zweige im Pfarrsaal des schwäbischen Örtchens, welchem die Familie ihren Namen verdankte. Selbst aus den USA, Venezuela und Neuseeland strömten die Bietigheims herbei, als gäbe es nichts Schöneres, als vorgeführt zu bekommen, wie fehlerhaft das eigene Erbgut war. Es war schon spät am Abend auf dem letzten Treffen gewesen, als Jan sich zu ihm setzte. Sein Cousin unbekannten Grades – aus der dem Professor ohnehin suspekten Linie der Siegerwald-Bietigheims – begrüßte ihn mit der Bemerkung, dass er aussehe wie ein Pauker aus der Feuerzangenbowle. In den folgenden Stunden klagte er dann unaufgefordert sein gesamtes Leid. Ihn hatte es der Liebe wegen ins Burgund verschlagen, dabei hasste er das ruhige Landleben. Die dunkelhaarige französische Schönheit namens Colette hatte sich längst wieder aus dem Staub gemacht. Übrig geblieben waren nur das ruhige Landleben und ein Job als Lokalredakteur bei der Gazette de Côte d'Or. Einem echten Scheißblatt, wie Jan meinte. Sein Häuschen lag im Weinort Meursault, der für seine mineralischen Chardonnay-Tropfen berühmt war und sich einen schönen Flecken auf der Anhöhe ausgesucht hatte.
    Mit dem Rad war es ein gutes Stück von Vosne-Romanée bis dorthin, und irgendwann hatte selbst der lauffreudige Benno von Saber beschlossen, den Platz im Lenkerkörbchen der Stra"e vorzuziehen. Als der Professor auf dem überdimensionierten Dorfplatz von Meursault ankam, begrüßten ihn eine Kirche, zwei Hotels mit Gaststätten, ein Supermarkt und ein Brunnen. Auf dem Rand des Letzteren hockte ein alter Mann, dessen rechtes Auge den Himmel fixierte, während das linke Bietigheim beobachtete. Der Professor grüßte und erntete eine freundlich erhobene Hand. Das war also ein Murisaltien, wie die Bewohner des Dörfchens sich nannten. Schienen ja ganz nett zu sein.
    Benno von Saber sprang aus dem Körbchen, rannte einmal um den Platz und bellte alles, inklusive Brunnen, gehörig an, um klarzustellen, welche Naturgewalt von nun an hier das Sagen hatte. Auch der Ureinwohner bekam ein paar Kläffer ab.
    Das Haus des Cousins lag direkt neben der Kirche, weshalb Jan beim Familientreffen auch eine halbe Stunde über das Geläut geklagt hatte. Bietigheim schloss sein Rad an einer Platane fest und klingelte. Neben den kupfernen Knopf hatte jemand mit schwarzer Farbe »La Caverne« an die Wand gepinselt – die Höhle.
    »Ist offen, verdammt noch mal!«, kam es von drinnen.
    »Ich bin es, Adalbert.« Keine Antwort. »Bietigheim. Dein Verwandter aus Hamburg.« Wieder nichts. »Der Professor.«
    »Ach, du elende Kacke!«
    Bietigheim hatte nicht damit gerechnet, mit offenen Armen empfangen zu werden, doch dies war ihm einen Tick zu unhöflich. Als er sich vor Wochen bei Jan über Fermier-Käsereien in der Region erkundigt hatte, war dieser eigentlich ganz umgänglich gewesen.
    »Fotofixierer! Na, klar«, fuhr der Verwandte nun fort. »Wie konnte ich den nur vergessen? Nimm dir einen Kaffee, Adalbert. In der Küche. Zucker ist im Schrank.«
    Bietigheim drückte die knarzende Haustür auf und trat ins Innere – soweit dies möglich war. Der Flur ähnelte nämlich einer Kunstinstallation. Links und rechts türmten sich mit Hanfkordel verknotete Zeitungspakete, wobei die obersten aussahen, als dürften sie den Gesetzen der Schwerkraft zufolge schon lange nicht mehr dort liegen. Der Professor zog den Kopf ein, als er zwischen ihnen hindurchschritt. Die Küche fand er nicht auf Anhieb, denn sie war ebenso mit Kartons, Dosen, Bündeln, Tüten und Büchern vollgestellt wie all die anderen Räume auch. Alles war mit Aufklebern versehen, doch Bietigheim konnte die Schrift nicht entziffern. Hieroglyphen waren ein Kinderspiel dagegen.
    »Bin gleich bei dir, alte Büchereule!«, rief Jan irgendwo aus den Tiefen des Hauses. Das ganze Gebäude wirkte, als wäre es in eine Presse geraten und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher