Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die letzte Reifung

Die letzte Reifung

Titel: Die letzte Reifung
Autoren: Carsten Sebastian Henn
Vom Netzwerk:
zusammengestaucht worden. Benno von Saber begab sich sogleich auf Erkundungstour, und Bietigheim schenkte sich eine Tasse dessen ein, was Jan als Kaffee bezeichnete. Normale Menschen hätten es hellbraunes Wasser genannt.
    »Die spinnen, sage ich dir. Alle! Keine Digitalkamera, nein, es muss unbedingt eine alte Spiegelreflex mit Normalfilm sein. Wer benutzt so was heute denn noch? Sie wollen die Abzüge und die Negative. Keiner darf etwas davon wissen, und alles muss natürlich superschnell gehen. Von wegen: Die Leute auf dem Land haben die Ruhe weg! Blödes Geschwätz. – Was willst du kleiner Ratz denn jetzt hier? Sofort raus, und der Vorhang bleibt zu. Verstanden? Ruf deinen Höllenhund zu dir, Adalbert!«
    »Bei Fuß, Benno!«
    Keine Reaktion. Dann erklang wieder Jans Stimme.
    »Raus habe ich gesagt!«
    Bietigheim hatte keine Ahnung, wohin sich Benno danach verzog, aber es blieb für fünf himmlische Minuten ruhig, bevor ein erneuter Aufschrei aus dem Fotolabor drang.
    »Da brat mir doch einer 'nen Storch! Das wird ja immer besser. Ein Sündenpfuhl, das Burgund. Wusste ich schon immer. Das ganze Weinsaufen schlägt auf die Moral und zerfrisst das Stammhirn. Mach mir bitte auch eine Tasse, Adalbert. Viel Milch, viel Zucker, dass der Löffel drin stecken bleibt.«
    Jan war mit einem immerwährenden Dreitagebart ausgestattet, über den er sich nun strich, als er in die Küche schlurfte. Er sah zerknautscht aus, doch seine großen blauen Augen, welche sicher so manches Frauenherz in Verzückung versetzten, waren hellwach. Er klopfte Bietigheim auf die Schulter, als dieser ihm höflich die Hand entgegenstreckte.
    »Du glaubst ja nicht, lieber Blutsverwandter, in welchem Sodom und Gomorrha du nach Käse suchst. Schön übrigens, dass du vorbeischaust! Am Telefon klang es noch, als hättest du keine Sekunde Zeit für mich.«
    »Für liebe Verwandte nimmt man sich die Zeit – egal, wie schwer es fällt.«
    »Leider hab ich heute kaum welche für dich. Wie lange bleibst du denn?«
    »Solange es nötig ist.«
    »Mi Casa es su Casa. Oder besser: Meine Höhle ist deine Höhle! So habe ich meine Behausung nämlich getauft. Fühl dich ganz wie daheim. Im Gästezimmer findest du ein Bett und im Badezimmer eine neu verpackte Zahnbürste. Für unerwarteten Damenbesuch. Sie steht da, seit Colette mich verlassen hat. Das sagt ja wohl alles. Magst du Lebkuchen zum Kaffee? Oder wie es hier heißt: Pain d'Épices? Ich hab eines mit Orangengeschmack. Dein Hund kann auch was haben. Bernhard hieß der, oder? Bernhard, komm!«
    Benno erschien, lief schnurstracks zu Jan und machte brav Sitz.
    Das Pain d'Épices spuckte er allerdings gleich wieder aus, was in dieser Küche, die sich in verschiedenen Stufen der Kompostierung befand, gar nicht weiter auffiel. Die Schimmelkulturen hätten jedem Mykologen Freudentränen in die Augen getrieben.
    Jan verschwand kurz und kehrte mit ein paar frisch entwickelten Fotos zurück.
    »Ich muss dir von einer irren Geschichte erzählen. Du bist verschwiegen, oder? Denk dir einfach, du wärst mein Pfarrer, okay? Kriegst du hin, Professor. Bist ja ein Schlauer! Ich habe heute einen dringenden Spezialauftrag des Bürgermeisters von Epoigey reinbekommen. Ein echter Bonze, der für die Nationalversammlung kandidiert und genau weiß, wie er der EU das Geld abmelkt. Na ja, egal, er rief mich auf jeden Fall vor einer guten Stunde an. Ich solle ganz schnell mit meiner Kamera kommen, um Bilder eines Unfalls zu machen.« Er verdrehte die Augen. »Eines Unfalls! Dass ich nicht lache! Ich darf eigentlich mit keinem über diesen Unfall reden. Aber du bist ja nur auf Durchreise und Verwandtschaft – da rede ich quasi mit mir selbst.«
    Jan legte Bietigheim die Bilder vor, einige davon Nahaufnahmen. Für die letzten Aufnahmen hatte er die Leiche umgedreht, sodass Madame Poincarés Gesicht zu sehen war. Sie schien ehrlich überrascht, gerade ermordet worden zu sein. Und auch angemessen wütend. Von himmlischem Frieden war in ihren tief zerfurchten Zügen nichts zu erkennen.
    »Ein Mord«, gab sich Bietigheim erstaunt, denn das Vertrauen in seinen Blutsverwandten ging noch nicht so weit, dass er ihm seinen Teil der Wahrheit hätte erzählen wollen. »Wie aus dem Lehrbuch.«
    Jan bildete mit Daumen und Zeigefinger eine Pistole und schoss auf Bietigheim. »Du weißt ja nicht, wie recht du hast! Schau dir die Bilder ganz genau an. Vor allem das hier: Es gibt nur den einen Einstich. Nur einen! Der Mörder hat nicht mehrfach
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher