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Die letzte Reifung

Die letzte Reifung

Titel: Die letzte Reifung
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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unglaublich schlecht, was für eine Frechheit! Das hat aber rein gar nichts mit dem Originalrezept zu tun, welches schließlich einen alten, zähen Gockel vorsieht, der erst durch den Wein mürbe wird. Traditionell wird auch Baguette zu Coq au Vin gegessen. Siehst du welches? Nein! Im burgundischen Originalrezept ist weiterhin von Marc de Bourgogne die Rede. Und hier? Keine Spur davon! Eine Unverschämtheit. Das glaubt mir zu Hause keiner.«
    »Früher haben die hier ganz ordentlich gekocht«, sagte Jan und steckte sich eine selbstgedrehte Zigarette in den Mundwinkel, aus der das Kraut unordentlich hervorschaute. »Denen werd ich was erzählen!«
    »Was redest du denn da? Ich bin sehr dankbar, das erleben zu dürfen. Das Massaker an einer großen burgundischen Spezialität. Das ist Küchengeschichte. Der widerlichsten Art, aber nichtsdestotrotz. Toll! Einfach nur toll!«
    Bietigheims Augen bekamen einen ganz besonderen Glanz. Er erinnerte sich an lederne Schweinshaxen, versalzene Riesling-Suppen und widerliche fleischlose Sauce Bolognese. Lauter wunderbare Anekdoten für seine Vorlesung »Irrwege der populären Küche im Zentraleuropa der Gegenwart«. Der Professor nahm nochmals die Speisekarte zur Hand. »Ist die Crème brûlée genauso schlecht?«
    Jan zuckte mit den Schultern. Als die Bedienung vorbeikam, lächelte sie Bietigheim an, der begeistert das Coq au Vin verspeiste und weitere Nahrungsunfälle bestellte.
    Doch so schön der Abend auch war, irgendwann ging nichts mehr in Bietigheims Magen hinein, und die Schwermut überkam ihn. Das Bild der toten Käserin blitzte immer wieder vor seinem inneren Auge auf. Sie würde nie wieder das Glück empfinden können, wenn die Milch zu Käse gerann oder sie ihren geliebten Käse wendete, bis er alt genug war, in die Welt hinauszugehen. Der Professor klagte Jan sein Leid und traute sich jetzt zu offenbaren, dass er höchstpersönlich es gewesen war, der die Tote entdeckt hatte, und wie der Bürgermeister ihn abgekanzelt hatte.
    »Wie lange wird dieser Mord wohl vertuscht werden können«, fragte der Professor, nachdem die Überreste des versalzenen Desserts abgeräumt waren. »Ein, zwei Tage? Länger doch sicher nicht, oder? So etwas geht heute schließlich nicht mehr. Dieser junge, dynamische Dorfgendarme, dessen Großtante sie war, er wird das Verbrechen doch wohl nicht ungesühnt lassen. Bürgermeister hin, Bürgermeister her.«
    »Der Dorfgendarme? Du meinst Benoit? So ein hagerer mit Zuhälterschnäuzer?«
    Bietigheim schaute irritiert. »Ja, den meine ich wohl. Der wird sich seine Sporen schon noch verdienen. Man muss an die Jugend glauben – sonst wäre meine Professur an der Universität auch unerträglich.«
    »Benoit ist der Dorfdepp, Adalbert. Bei seiner Schreinerlehre schnitt er sich fast den Daumen ab, und als Kellner zerbrach er mehr Geschirr, als er mit seinem Lohn decken konnte. An der Supermarktkasse stellte er einen neuen Rekord in Langsamkeit auf, und durch die Busführerschein-Prüfung fiel er insgesamt viermal. Die Anstellung als Polizist hat er nur dank des Bürgermeisters bekommen. Der war nämlich der Meinung, an dieser Stelle könne der Bursche am wenigsten Unheil anrichten. Seitdem Benoit die Uniform trägt, kommt er sich wahnsinnig wichtig vor, dabei nimmt ihn immer noch keiner ernst.«
    »Oh.«
    »Dieser Mord, lieber Anverwandter, wird niemals aufgeklärt werden.«
    »Aber das geht doch nicht!«
    »Geht sehr wohl.« Er wandte sich an die gerade vorbeihuschende Kellnerin. »Zwei Café Crème bitte.«
    »Oh, nein!« Bietigheim stieß seine Gabel wütend durch die Tischdecke in den hölzernen Tisch, als brächte er damit alles Unheil der Welt zur Strecke. »Diese Frau war ein nationaler Kulturschatz! Es gibt kaum einen großartigeren Käse im ganzen Land als ihren Vacherin d'Epoigey. Sie hätte den Meilleur-Ouvrier-de-France- Orden verdient, wie auch Bocuse ihn bekommen hat.«
    Bietigheim hob die Gabel – mitsamt einem Teil der Tischdecke. »Das ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit!«
    »Schhh, Adalbert, die Wirtin guckt schon. Ein geschwätziges Weib, sag ich dir. Und die halten mich hier ohnehin für einen Spinner. Als zugereister Boche ist es nicht immer einfach.«
    Bietigheim stand auf und streckte einen Zeigefinger in die Höhe. Er war in Dozierlaune.
    »Meine Professur für Kulinaristik ist nicht nur rein theoretischer Natur. Es geht auch um den ganz realen Schutz der kulinarischen Traditionen.« Bietigheim blickte sich um, doch die
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