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Die letzte Reifung

Die letzte Reifung

Titel: Die letzte Reifung
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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Professor zu empfangen. Aber er solle pünktlich sein und nichts Besonderes erwarten. Es sei nichts weiter dabei, Käse zu machen, und sie habe auch gar nicht lange Zeit für ihn. Madame Poincaré war ein alter Knochen, wie es sie nur noch selten gab. Sie hatte Bietigheim gleich an seine Großmutter erinnert, die durch den Krieg und die Zeit des Wiederaufbaus geprägt war, immer hart zu sich selbst und hart zu anderen. Sie hatte lange gelebt und war doch viel zu früh verstorben.
    Als er sich von den Weinbergen entfernte, schließlich in Epoigey ankam, sein Hollandrad vor der kleinen Käserei in der Rue Napoléon ordentlich auf den Ständer wuchtete und sich die Hosenbeinspangen abklemmte, bemerkte er sofort die himmlische Ruhe. Auf der Dorfwiese waren nicht einmal die obligatorischen Pensionäre zu finden, die Boule spielten oder, falls ihnen der Sinn nicht nach Leistungssport stand, einfach still nebeneinander auf einer Bank saßen, wie Spatzen auf einer Überlandleitung. Sogar das chinesische Restaurant Le Lotus bleu hatte geschlossen. Kein Hund bellte. Am merkwürdigsten war allerdings die Weide hinter dem einfachen Bauernhaus, in dem sich die kleine Käserei befand. Sie war kuhlos. Weder sanftes Muhen erklang, noch das Geräusch Gras zermalmender Mäuler. Eine Weide ohne Kühe, befand Bietigheim, war wie ein Coq ohne Vin. Hier sollten Montbéliard-Rinder stehen, deren Milch besonders viel Kasein aufwies, das für die Milchherstellung des Vacherin d'Epoigey so essenziell ist. Madame Poincaré verwendete ausschließlich Montbéliard-Milch. Das hatte sie ihm am Telefon durch ein Brummen bestätigt.
    Unruhig blickte Bietigheim auf seine goldene Taschenuhr – zwanzig Minuten zu früh. Er hasste Menschen, die zu früh kamen. Es war bedeutend schlimmer, als verspätet einzutreffen. Bietigheims Pünktlichkeit war eine Viertelstunde zu spät, so gehörte es sich für einen Akademiker. Deshalb schlenderte er nun um den Dorfplatz, die Hände hinter dem Rücken gefaltet, und summte Beethovens Sechste, die Pastorale. Nach seiner Runde schaute Bietigheim abermals auf die Uhr. Es fehlten weiterhin zehn Minuten! Was konnte er noch tun? Der Professor kontrollierte abermals das Schloss an seinem Fahrrad und beschloss dann, dem Mysterium der fehlenden Kühe auf den Grund zu gehen. Er war nämlich ein äußert neugieriger Mensch. Bietigheim sah dies als eine seiner guten Eigenschaften an, schließlich hatte sie ihn zur Wissenschaft geführt.
    »Platz!«, befahl er Benno von Saber, der ihm daraufhin brav folgte, als er das Gatter öffnete und auf die Wiese trat. Das Gras war saftig, fressbereit sozusagen, doch nirgendwo war ein Wiederkäuer zu sehen. Selbst Benno von Saber wurde nicht fündig, obwohl er in kürzester Zeit weite Kreise gezogen hatte.
    Schließlich fand der Foxterrier die Kühe. Im Stall. Obwohl das Tor offen stand und der Wind lau wehte, die Sonne gnädig schien, es also ein herrlicher Tag zum Grasen war. Doch diese Kühe standen im Stall und schauten so glücklich drein, als hätte man ihnen Hanf ins Heu gemischt. Ihre Augen waren geradezu glasig, und ihre Mäuler standen offen. Sie gaben keinen Laut von sich, als Bietigheim ihnen nahe trat. So hatte der Professor Milchvieh noch nie zuvor gesehen. Die rot-weiß gescheckten Tiere mit den hellen Köpfen schienen mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein. Und wenn er sich nicht täuschte, schunkelten sie leicht im Takt, als liefe irgendwo Volksmusik. Das war nicht normal. Überhaupt nicht. Städter mochten denken, dass Kühe immer so aussahen: zufrieden mit sich und der Welt. Doch diese hier strahlten geradezu vor Glück. Dabei waren ihre Euter bereits prall, höchste Zeit, die Tiere zu melken. Die Kühe zwickte es sicher schon.
    Bietigheim musste Madame Poincaré unbedingt fragen, was es damit auf sich hatte. Vom Stall gab es einen Zugang zur eigentlichen Käserei, einem Raum mit mehreren Kupferkesseln, Schalen, Tüchern und Schöpfkellen, dazu etlichen Behältnissen, die unleserlich beschriftet waren. Ein Anachronismus in Zeiten von vor Edelstahl blitzenden und weiß gefliesten Käsereien. Eigentlich handelte es sich um ein Schlafzimmer, denn in der Ecke stand ein Bett, ein Nachttisch daneben, an der Wand eine Kommode aus dunklem Holz. Staub schien zwar nirgendwo zu liegen, doch jeder EU-Inspektor hätte diese Käserei auf der Stelle dichtgemacht. Wie gut, dass anscheinend noch keiner vorbeigekommen war. Nach Käse roch es hier nicht, sondern nach frischer Milch,
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