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Die letzte Reifung

Die letzte Reifung

Titel: Die letzte Reifung
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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Küchentraditionen erfahren? Gerade jetzt bin ich auf dem Weg zur Käserei von Madame Poincaré. Sie will mir die Herstellung ihres vorzüglichen Käses zeigen. Ich plane nämlich eine Abhandlung über die Käse des Burgunds, als Teil meiner >Tour de Fromage. Und dabei darf der teuerste und seltenste Käse der Fünften Republik natürlich nicht fehlen. Ich möchte ihn als die Krönung der Rotschmierkäse-Kunst bezeichnen, ja so weit wage ich mich vor, und da würden mir wohl selbst meine Zürcher Kollegen kaum widersprechen.« Bietigheim konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Diese Zürcher und ihr Käsestolz, einfach nur lächerlich. »Der Epoigey ist die sublimste Vermählung von Cremigkeit und Herbe, die sich nur denken lässt. Fraglos hängt dies mit der besonderen Kuhfütterung durch Madame Poincaré zusammen. Es hat mich viel Arbeit gekostet, einen Termin bei dieser sehr zurückgezogen lebenden Dame zu erhalten. Und nun drängt leider die Zeit.«
    An dieser Stelle unterbrach ihn der Polizist. »Tour de Fromage?« Er zog eine Augenbraue empor.
    »Ganz genau!« Endlich verstand der Mann. »Seit einigen Jahren fahre ich in der vorlesungsfreien Zeit stets ein Stück mit meinem treuen Rad durch Frankreich und besuche dabei die herausragenden Käsereien – natürlich keine industriellen Betriebe.« Bietigheim rümpfte empört die Nase, was er nach langjähriger Erfahrung mit lernunwilligen Studenten in Perfektion beherrschte.
    Benno von Saber hob nochmals das Bein – diesmal jedoch in einem benachbarten Weinberg. Bietigheim sandte einen fragenden Blick zum Polizisten.
    »Das ist die Lage Romanée Saint-Vivant.«
    »Und?« Adalbert Bietigheim gab es ungern zu, doch mit berühmten Weinlagen kannte er sich en détail nicht aus. Im nächsten Jahr wollte er sich jedoch für ein neues Proseminar über »Europas historische Rebberge« damit auseinandersetzen – inklusive ausführlicher Recherche-Weinproben. »Was hat es mit diesem Weinberg denn auf sich?«
    »Er ist ebenfalls ein Grand Cru, aber deswegen landen Sie nicht im Knast. Dafür aber schon.« Der Polizist deutete auf die feuchte Stelle in der Lage Romanée-Conti. »Die Besitzer der Domaine nehmen es äußerst genau, seit sie vor Kurzem erpresst worden sind. Ihre wertvollsten Stöcke sollten vergiftet werden, falls nicht eine Million Euro gezahlt würde. Bevor der Täter Schaden anrichten konnte, wurde er Gott sei Dank gefasst. Bei dem … Anschlag Ihres Hundes waren wir nun leider etwas zu spät dran.«
    Selbst ist der Mann, dachte Bietigheim, und ein Mann ist auch zu unorthodoxen Schritten fähig. Also nahm er sich eines seiner Stofftaschentücher, stieg abermals über die Mauer und tupfte den Rebstock ab. Daraufhin griff er kurz in seinen Rucksack, drückte dem verdutzten Polizisten den restlichen Epoisses als Schmiergeld – im wahrsten Sinne des Wortes – in die Hand, stieg flugs auf sein Rad und trat schnell in die Pedale.
    »Grüßen Sie Madame Poincaré!«, rief ihm der Polizist nach, anstatt ihn zu verfolgen. »Sie ist nämlich meine Großtante.«
    Bietigheim radelte trotzdem schneller.
    »Und lassen Sie sich hier ja nie wieder blicken!«, brüllte Claude.
    Einen Käse verloren – doch die Freiheit gewonnen. Ein gutes Geschäft.
    Benno von Saber trug seinen Teil zur erfolgreichen Flucht bei, indem er gefährliche Beller von sich gab – soweit das einem Foxterrier seiner Größe möglich war. Bietigheim blickte weder auf die sanft gewellten Osthänge, die begehrte Pinot Noirs hervorbrachten, noch westwärts in die Ebene, wo Johannisbeersträucher standen und sich Weideland erstreckte. Er dachte an Madame Poincarés Großneffen, den Polizisten. Der Professor hatte sich die Familie der Käserin anders vorgestellt. Wie genau, wusste er nicht, aber auf jeden Fall nicht so … uniformiert.
    Über Madame Poincaré hatte er seine wissenschaftliche Assistentin an der Universität Hamburg einiges zusammentragen lassen. Die Käserin war bereits vor über dreißig Jahren von ihrem Vater in die Geheimnisse der Herstellung des Vacherin d'Epoigey eingeführt worden und widmete sich dem Käsemachen rund 210 Tage im Jahr, ohne Pause, von Dezember bis Juli. Sie besaß neun Kühe, stellte jeden Morgen fünfzehn Käselaibe her, und abends, wenn die Milch spärlicher floss, kam ein weiteres Dutzend hinzu. Die früh verwitwete Madame hatte nie gelernt, viele Worte zu machen. Am Telefon war sie schroff gewesen, erst beim siebten Anruf hatte sie eingewilligt, den
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