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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns
Autoren: Polina Daschkowa
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gleichsam gewichtlos geworden. Die Dunkelheit
     verdichtete sich immer mehr. In den hohen Wipfeln der Tannen rauschte der Wind. Feiner Eisstaub wehte ihr ins Gesicht. Ein
     Schneesturm kam auf. Lena schien es, als fliege sie zusammen mit dem nadelfeinen Schneegestöber fort. Das Sausen in den Ohren
     wurde lauter, in der Kehle würgte es sie. Die schwarzen Baumstämme begannen sich vor ihren Augen zu drehen, der schwarze Schnee,
     die schwere, pulsierende Finsternis verschlang alles ringsum.
    Lena verlor das Bewußtsein und fiel zu Boden.
    ***
    Die Kämpfer der Spezialeinheit kletterten einer nach dem anderen über die zwei Meter hohe Mauer. Die vier Hundehütten waren
     leer. Im Haus herrschte Totenstille. Die Kämpfer schwärmten in verschiedene Richtungen aus und bezogen Posten. Der Militärhubschrauber
     schwebte direkt über dem Dach. Zwei Männer ließen sich an einerStrickleiter hinunter und drangen durch eine Luke in den Dachboden ein.
    Bald war klar: Das einstöckige Steinhaus war leer. Keine Menschenseele war mehr hier. Die gründliche Durchsuchung blieb ergebnislos.
     Nur in einem der Schränke entdeckte Oberst Krotow die dunkelbraune Lederjacke seiner Frau. Die Jacke hing zwischen fremder
     Oberbekleidung ordentlich auf einem Kleiderbügel, aus dem Ärmel guckte ein karierter Wollschal. In den Taschen fand er ein
     sauberes Taschentuch, dreißigtausend Rubel in kleinen Scheinen und eine Gästekarte für das Hotel »Tobolsk«.
    Auf dem Boden des Schrankes lag zwischen lauter fremden Schuhen Lenas Tasche. Darin befanden sich alle ihre Papiere, Paß und
     internationaler Presseausweis, eine angebrochene Schachtel Zigaretten, zweihundert Dollar in einem Seitenfach, Kosmetiktäschchen
     und Haarbürste.
    Der Schal duftete noch nach Lenas Parfum. Niemand sah, wie der bleich gewordene Oberst sein Gesicht darin vergrub.
    ***
    Lena hörte zuerst ein rhythmisches, langsames Rumpeln, dann spürte sie einen Lichtschein durch ihre fest geschlossenen Lider
     und einen sonderbaren Geruch, nicht unangenehm, aber fremdartig. Noch bevor sie die Augen öffnete, begriff sie: Irgendwo ganz
     in der Nähe rattert ein Zug mit vielen schweren Waggons. Wahrscheinlich ein Güterzug. Und es riecht nach verbrannter Kohle,
     nach dieser besonderen, unverwechselbaren Luft der Eisenbahn.
    Es war ziemlich kalt. Sie entdeckte, daß sie auf einem Haufen schwarzgelber Lumpen lag, eine fremde Lammfelljacke trug und
     mit einer speckigen, zerlumpten Steppjacke zugedeckt war. Als sie sich vorsichtig erhob, wäre sie fast gefallen, konnte sich
     aber gerade noch auf den Beinen halten und blickte sich um.
    An den Holzwänden hingen noch einzelne Fetzen Tapete. Auf dem Fußboden lagen irgendwelche Eisenteile herum, Zeitungsschnipsel,
     ein zerbrochener Hocker, ein paar leere Konservendosen und Wodkaflaschen. In der Ecke stand ein halbzerfallener Ofen. Durch
     ein zerbrochenes Fenster fiel warmes Morgenlicht herein. Vom Windzug knirschte und klapperte die Tür.
    Das Rattern des Zuges war in der Ferne verstummt.
    »Wassja!« rief sie erschrocken.
    Aber niemand antwortete. Sie ging nach draußen. Direkt vor ihr lag ein Eisenbahndamm, eine eingleisige Strecke. Zu beiden
     Seiten war die Taiga. Kein Mensch weit und breit, nur das kleine, verlassene Häuschen des Streckenwärters.
    Lena schöpfte eine Handvoll frischen Schnee und rieb sich das Gesicht ab. Vor Hunger zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen.
     Als sie die Hände in die Taschen steckte, entdeckte sie dort ein kleines Klümpchen Folie. Sie nahm es heraus und faltete es
     auseinander. Von den vier Schokoladestückchen hatte Wassja sich nur eins abgebrochen. Die anderen drei hatte er ihr gelassen.
    Sie erinnerte sich verschwommen daran, wie der Killer sie fast getragen hatte, wie er einmal gesagt hatte:
    »Bitte halt noch ein bißchen aus. Nur gut, daß du so dünn und leicht bist.«
    Sie wußte nicht, wie lange sie bis zu diesem verlassenen Häuschen gegangen waren, erinnerte sich nicht, wie er sie auf diese
     Lumpen gelegt und mit der Steppjacke zugedeckt hatte.
    Die Schokolade schmolz langsam im Mund. Lena aß etwas Schnee dazu. Ihr wurde leichter, der Schmerz im Magen ließ nach.
    Sie trug die Steppjacke nach draußen, legte sie neben die Schienen und setzte sich darauf. Hier war eine Eisenbahnstrecke,
     hier mußte es auch Züge geben. Einer war ja schon vorbeigefahren. Wenn der nächste kam, würde sie dasRattern der Räder schon von weitem hören und sich auf die Eisenbahnschwellen
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