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Die Legenden des Raben 01 - Schicksalswege

Die Legenden des Raben 01 - Schicksalswege

Titel: Die Legenden des Raben 01 - Schicksalswege
Autoren: James Barclay
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ehrlich sein«, sagte Hirad.
    »Ich auch.«
    Sie schwiegen. Es war nicht leicht gewesen, sich in den letzten sechs Jahren aneinander zu gewöhnen, doch inzwischen hatte Hirad das Gefühl, Sha-Kaan als Freund bezeichnen zu können. Er hatte seine Beziehung zu dem Drachen als eine Art Lehrzeit verstanden. Seit er sich einverstanden erklärt hatte, der Drachenmann des Großen Kaan zu werden und dem Drachen eine lebenserhaltende Verbindung zur Dimension von Balaia zu öffnen, war er der geringere Partner in einem Bündnis zwischen Ungleichen gewesen. Zwar waren die Vorteile eines direkten Kontakts mit einem Drachen – und die Gewissheit, im Notfall dessen Unterstützung zu bekommen – nicht von der Hand zu weisen, doch solange sie sich kannten, hatte das Ehrfurcht gebietende Wesen, das sich seiner Herrschaft und seiner Kräfte sicher war, nie das Gefühl gehabt,
sich dem Menschen gegenüber bewähren zu müssen. Hirad dagegen hatte genau das Gegenteil empfunden.
    Doch das Gefälle hatte sich während des langen Exils Sha-Kaans und seines Brutbruders Nos-Kaan etwas ausgeglichen. Die Drachen saßen in einer fremden Dimension fest, der Rückweg war ihnen nach einer gewaltsamen Neustrukturierung der Dimensionen versperrt, und sie konnten ihre Heimat nicht mehr spüren. So war Sha-Kaan sich seiner Sterblichkeit bewusst geworden, da seine Gesundheit stetig schlechter wurde. Hirad dagegen glaubte, seine unerschütterliche Loyalität den Kaan-Drachen gegenüber habe bewiesen, dass er weit mehr war als ein geschätzter Diener – und dass er sich als echten Freund betrachten durfte. Es schien, als teilte mindestens Sha-Kaan diese Ansicht.
    Hirads Aufmerksamkeit wurde durch eine Bewegung unten auf den Terrassen erregt. Eine Frau kam hinter einer baumbestandenen Grabstätte hervor und kniete vor einem kleinen, sorgfältig gepflegten und mit einem wundervollen Blumenarrangement geschmückten Grabhügel nieder. Sie war von mittlerer Größe und hatte eine reife Figur, das braune Haar war mit einem schwarzen Band zurückgebunden. Sie zupfte einige Gräser aus dem Beet, und Hirad konnte sehen, wie sie die toten Triebe von einem blühenden Strauch entfernte, dessen gelbe Blüten leise im warmen Windhauch nickten.
    Wie immer, wenn er sie sah, schlug Hirads Herz etwas schneller, seine Stimmung sank, und er wurde traurig. Dem unbedarften Auge wäre es so vorgekommen, als erfreue die Frau sich einfach an der Schönheit, die sie dort geschaffen hatte. Doch diese Frau, Erienne, litt unvorstellbare Qualen, weil unter den Blüten ihre Tochter Lyanna begraben war.

    Lyanna, die der Rabe hier auf der Insel hatte retten wollen. Lyanna, die mit dem Verstand eines fünfjährigen Mädchens nicht die Kräfte verstehen konnte, die in ihr entfesselt worden waren. Lyanna, die mit ihrer unkontrollierten Magie ganz Balaia hätte zerstören können. Lyanna, die von genau denen dem Tod überlassen worden war, die Erienne versprochen hatten, sie würden das Kind ausbilden, damit es überleben konnte.
    Dies war etwas, das Hirad einfach nicht verstehen konnte, obwohl er im letzten halben Jahr auf Herendeneth reichlich Gelegenheit gehabt hatte, es sich zusammenzureimen. Zwei der vier Al-Drechar, die Lyanna hatten sterben lassen, lebten in den noch bewohnbaren Bereichen ihres Hauses hier auf der Insel. Doch die Erklärungen zu Lyannas keimenden Kräften und die Unfähigkeit des Mädchens, diese Kräfte zu kontrollieren, weil sie viel zu klein und körperlich zu schwach war, überstiegen sein Begriffsvermögen.
    Er wusste nur, dass der Kern der Einen Magie, der in Lyanna zu keimen begonnen hatte, auf Erienne übertragen worden war, als das kleine Mädchen starb. Und er wusste, dass Erienne das Eine hasste. Sie erlebte es wie eine unheilbare Krankheit, und daher hasste sie die noch lebenden Al-Drechar umso mehr. Sie bekam davon Kopfschmerzen, sagte sie; und auch wenn die Al-Drechar, die schwachen uralten Elfenfrauen, Erienne angeblich helfen konnten, diese Kräfte zu kontrollieren, zu benutzen und zu entwickeln, war sie nicht bereit, ihre Gegenwart überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.
    Diese Reaktion konnte Hirad verstehen. Im Grunde wunderte er sich sogar darüber, dass Erienne noch nicht versucht hatte, die beiden überlebenden Al-Drechar zu töten. Er wusste, was er gegenüber Leuten empfunden
hätte, die sein Kind ermordet hatten. Dennoch war er dankbar, denn trotz Sha-Kaans momentan gelöster Stimmung brachte das Exil in Balaia die Drachen langsam um, und
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