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Die Lebensfreude

Die Lebensfreude

Titel: Die Lebensfreude
Autoren: Emil Zola
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heraus, an welchem du ein so großes Mädchen bist, daß du selbst sie dir zurückholen kannst ... Gelt, Minouche, wird sie dir hier innen nicht auffressen.«
    Der Gedanke, daß Minouche den Schreibsekretär öffnen und die Papiere auffressen könnte, ließ das Kind laut auflachen. Seine kurze Verlegenheit war verschwunden, es spielte mit Lazare, der zu ihrer Belustigung wie die Katze schnurrte und so tat, als ob er das Schiebfach angreife. Er lachte ebenfalls herzlich. Seine Mutter aber hatte feierlich die Platte zugeklappt und verschloß sie doppelt mit energischer Handbewegung.
    »Das wäre getan«, sagte sie. »Mache keine Dummheiten, Lazare. Jetzt will ich hinaufgehen und sehen, ob nichts fehlt.«
    Alle drei kehrten im Gänsemarsch wieder auf die Treppe zurück. Im zweiten Stock hatte Pauline von neuem zögernd, die Tür links geöffnet, als ihre Tante ihr zurief:
    »Nein, nein, nicht auf dieser Seite. Das ist das Zimmer deines Vetters; deine Stube befindet sich gegenüber.«
    Pauline war stehen geblieben, angelockt durch die Größe des Raumes und das speicherartige Durcheinander der ihn füllenden Gegenstände; da waren ein Klavier, ein Schlafsofa, ein riesiger Tisch, Bücher und Bilder. Endlich stieß sie die andere Tür auf und war entzückt, obwohl ihr Zimmer ihr, im Vergleich zu dem anderen, ganz klein erschien. Die Tapeten hatten einen ungetönten Grund mit eingestreuten blauen Rosen. Es standen dort ein eisernes Bettgestell mit Musselinvorhängen, ein Toilettetisch, eine Kommode und drei Stühle.
    »Es fehlt nichts,« sagte Frau Chanteau; »Wasser, Zucker, Handtücher, Seife, alles da... Schlafe ungestört. Veronika liegt in einer Kammer nebenan. Wenn du dich fürchtest, brauchst du nur an die Mauer zu klopfen.«
    »Dann bin auch ich noch da«, erklärte Lazare. »Wenn ein Gespenst erscheint, komme ich mit meinem großen Säbel.«
    Die Türen der beiden gegenüber gelegenen Zimmer waren offen geblieben, Pauline ließ ihre Blicke von dem einen zum andern gleiten.
    »Es gibt keine Gespenster«, sagte sie mit heiterer Miene. »Ein Säbel ist gut gegen die Diebe. Gute Nacht, Tante. Gute Nacht, Vetter.«
    »Gute Nacht, Schätzchen... Wirst du dich auskleiden können?«
    »0 ja, ja... Ich bin kein kleines Mädchen mehr. In Paris machte ich alles allein.«
    Sie umarmten sich. Frau Chanteau sagte ihr noch beim Hinausgehen, sie könne die Tür von innen abschließen. Aber schon stand das Kind am Fenster, es brannte vor Begierde zu sehen, ob es eine Aussicht auf das Meer habe. Der Regen rieselte mit solcher Heftigkeit an den Scheiben hernieder, daß Pauline nicht zu öffnen wagte. Es war sehr dunkel, aber es beglückte sie, das Meer zu ihren Füßen sich brechen zu hören. Dann machte sie trotz der Müdigkeit, die sie fast im Stehen einschlafen ließ, die Runde durch das Zimmer und besah die Möbel. Der Gedanke, daß sie nunmehr eine Stube für sich habe, einen von den anderen getrennten Raum, in dem sie sich einschließen konnte, erfüllte sie mit dem Stolze, schon eine erwachsene Person zu sein. Als sie jedoch den Schlüssel umdrehen wollte, ihr Kleid schon ausgezogen hatte und im kurzen Unterrocke dastand, zögerte sie, von einem Unbehagen gepackt. Wohin konnte sie sich retten, wenn sie jemanden sah? Es überlief sie ein Schauder, und sie öffnete nochmals die Tür. Gegenüber, in der Mitte des eigenen Zimmers, stand noch Lazare und schaute sie an.
    »Was gibt es?« fragte er. »Brauchst du etwas?«
    Sie wurde tief rot, wollte erst eine Ausrede machen, dann aber gab sie ihrem Offenheitsdrange nach.
    »Nein, nein. Ich habe Furcht, wenn die Türen mit Schlüsseln verschlossen sind. Ich will mich deshalb lieber nicht einschließen, verstehst du, und wenn ich klopfe, gilt es dir, damit du kommst... Du, hörst du, nicht das Mädchen.«
    Er war näher gekommen, angezogen durch den Reiz des schlichten und zärtlichen Kindes.
    »Gute Nacht«, wiederholte er und öffnete die Arme.
    Sie warf sich an seinen Hals und umschlang ihn mit ihren dünnen Ärmchen, ohne sich um ihre Nacktheit eines kleinen unreifen Mädchens zu kümmern.
    »Gute Nacht, Vetter.«
    Fünf Minuten später hatte sie tapfer ihr Wachslicht ausgelöscht und sich tief in ihrem Bette hinter den Musselinvorhängen zusammengerollt. Vor Ermüdung verfiel sie in einen langen traumlosen Schlaf. Zuerst hörte sie noch Veronika mit rücksichtslosem Geräusch heraufstampfen und ihre Möbel in einer Weise rücken, daß jeder aufwachen mußte. Dann vernahm sie nur
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