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Die Lava

Die Lava

Titel: Die Lava
Autoren: Ulrich Magin
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verzeichnen konnten. Trotz aller zur Schau getragenen gleichgültigen Misanthropie wirkte MacGinnis häufig so, als vibriere er innerlich. Es schien, als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis er wie ein Choleriker explodierte. Doch er explodierte nie. Vielleicht war das Beherrschtheit, vielleicht auch nur Resignation.
    Es hieß, dies hier sei MacGinnis letzter Auftrag vor seiner Pensionierung. Eine offizielle Bestätigung dafür gab es nicht. Das wäre auch ungewöhnlich gewesen. Aber MacGinnis selbst hatte so etwas einmal angedeutet.
    Als Joe am Tag zuvor mit einem kleinen Echolot, einem Fish-Finder, eine Struktur im See lokalisiert hatte, strahlte er über das ganze Gesicht. Endlich ein Ergebnis! Als sich dann herausstellte, dass es sich nur um einen zerborstenen Lavastrom unter Wasser handelte, konnte jeder die Enttäuschung in seinem Gesicht ablesen.
    MacGinnis aber hatte ihn nur mit derselben Mischung aus Missmut, Enttäuschung und Weltekel angeblickt, die er immer zur Schau trug – und ihn dann aufgefordert weiterzusuchen.
    »Es geht hier nicht um Ihre Befindlichkeiten«, musste sich Hutter anhören, »es geht um die Halifax!«
    Hutter betrachtete die Karte mit den Markierungen. Eines der Kreuze interessierte ihn – es lag ufernah, etwa gegenüber der Abtei im seichten Wasser. Nichts wies darauf hin, dass es die Halifax sein konnte – die wurde ganz woanders vermutet –, aber nachzusehen schadete nichts.
    »Ich gehe tauchen!«, verabschiedete sich Hutter. Als er sah, dass MacGinnis die Augenbrauen kurz anhob, fügte er schnell militärisch hinzu: »Melde mich ab zum Tauchgang.«
    Er verließ den Raum und trat in den Flur.
    Überall lag transparente Plastikfolie auf dem Boden ausgebreitet, die von weißen Farbflecken übersät war. Jemand hatte den Putz von den Wänden geklopft. Er lief um das Handwerkszeug herum, das man dazu benutzt hatte, und öffnete die Tür.
    »Betreten verboten – Renovierungsarbeiten« las er auf dem Schild draußen. Alles wirkte so, als würde in dem Flur nach dem Erdbeben kräftig gearbeitet – die perfekte Tarnung.
    Joe lächelte. Er wusste es besser.
    Joe Hutter hörte ein Knarren hinter seinem Rücken und drehte sich um. Es war Andrew Neal, der die Tür öffnete. Neal bückte sich unter der niedrigen Öffnung durch und folgte ihm.
    »Ich komme mit«, meinte er. Neal, über zwei Meter groß, dünn, fast schon ausgemergelt, nickte Hutter zu. Er war, trotz seiner erst vierzig Jahre, schon schlohweiß. »Ich habe eben einen Augenzeugen angerufen, er wartet schon unten auf uns. Dann kannst du immer noch tauchen gehen.«
    Andrew Neal und Joe Hutter navigierten das Boot mit gedrosseltem Außenbordmotor allmählich zu der Stelle auf der Seeoberfläche, die Andreas Trattmann schon vom Ufer aus angezeigt hatte. Sehr weit draußen war das nicht, aber die langsame Fahrt sollte auch Trattmanns Orientierung dienen.
    Der alte Herr, ein rüstiger Mittsiebziger, saß auf der Querbank und betrachtete abwechselnd zuerst amüsiert Neal und dann aufgeregt die Uferlinie. Sie schien ihm gleichzeitig so vertraut und so verändert. Die Zeit wischt über das Gewohnte und verwandelt es in etwas Fremdes, sie löscht Erinnerungen oder fügt sie hinzu, und zum Schluss weiß man selbst nicht mehr, was tatsächlich stimmt. Hier aber warTrattmann sich sicher, es musste nur diese auffällige Gratlinie in den Hügeln um den See wieder erscheinen, und er hatte die richtige Stelle gefunden. So wie sich die Hanglinien beim allmählichen Vorangleiten verschoben, konnte es nicht mehr lange dauern. Die beiden Briten merkten, wie die Aufregung in ihm aufstieg.
    Seinen Brief an die Lokalzeitung hatte er schon ein Jahrzehnt zuvor geschrieben, als das Flugzeug Schlagzeilen in der ganzen Region gemacht hatte. Er hatte beschrieben, wie er als Kind beim Angeln in das klare Wasser des Sees heruntergeschaut hatte, von seinem kleinen, klapprigen Ruderboot, und da – direkt unter sich – auf dem grauen Boden den silbrig glänzenden Rumpf des Bombers gesehen hatte, ein Atlantis der Eifel.
    Andrew Neal war beim Recherchieren auf diesen Brief gestoßen. Zwar sollte sich die Episode in den 1950er Jahren ereignet haben, es handelte sich dennoch um die jüngste gute Sichtung der Halifax – sah man von einem anonymen Augenzeugen ab, der das Wrack von einem Linienflugzeug aus erspäht haben wollte.
    Neal hatte Trattmann angerufen. Der alte Mann freute sich ehrlich über die Aufmerksamkeit. Er beschrieb so präzise, wie seine
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