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Die Larve

Die Larve

Titel: Die Larve
Autoren: Jo Nesbø
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Und dann gab es da natürlich diese Sage, dass Askild Øregod noch immer herumspukte. Wenn auch niemand so richtig daran glaubte. Askild Øregod war vergessen und durfte – im wahrsten Sinne des Wortes – in Frieden ruhen.
    Als der Pastor die Friedhofstür hinter sich schloss, trat eine Gestalt aus dem Dunkel an der Mauer. Der Pastor blieb wie angewurzelt stehen.
    »Hab Erbarmen«, sagte eine raue Stimme, und eine große, offene Hand streckte sich ihm entgegen.
    Der Pastor musterte das Gesicht unter dem Hut. Es war wie eine alte, zerfurchte Landschaft mit einer kräftigen Nase, großen Ohren und zwei überraschend blauen, reinen, ja unschuldigen Augen. Wirklich unschuldig, dachte der Pastor, nachdem er dem Armen zwanzig Kronen in die Hand gedrückt und sich auf den Heimweg gemacht hatte. Die unschuldigen, blauen Augen eines Neugeborenen, der noch nicht der Vergebung der Sünden bedurfte. Vielleicht sollte er auch das morgen in seiner Predigt unterbringen.
    Ich komme jetzt zum Schluss, Papa.
    Ich hocke am Boden, Oleg steht über mir. Er hält die Odessa mit beiden Händen, als könnte er sich daran festhalten, ein Zweig über einem Abgrund. Hält sie umklammert und schreit. Ist vollkommen außer sich. »Wo ist sie? Wo ist Irene? Sag es, oder … oder …!«
    »Oder was, du blöder Junkie? Du schaffst es doch gar nicht abzudrücken. Du hast das nicht in dir, Oleg. Du bist einer von den Guten. Entspann dich, wir können uns den Schuss doch auch teilen. Okay?«
    »Vergiss es, erst sagst du mir, wo Irene ist.«
    »Kriege ich dann den ganzen Schuss?«
    »Den halben. Es ist der letzte, den ich habe.«
    »Deal. Aber leg erst die Pistole weg.«
    Der Idiot hat wirklich gemacht, was ich gesagt habe. Als würde er nie etwas lernen. War noch genauso naiv und leicht zu verarschen wie nach dem Judas-Konzert. Er beugte sich vor und legte diese komische Pistole vor sich auf den Boden. Ich sah, dass der Schalter an der Seite auf »C« stand, sie also Salven schoss. Nur ein leichter Druck auf den Abzug und …
    »Also, wo ist sie?«, fragte er und richtete sich auf.
    Und jetzt, da die Mündung nicht mehr auf mich zielte, spürte ich die Wut kommen. Dieser Arsch hatte mich doch tatsächlich bedroht. Genau wie mein Pflegevater. Und wenn es etwas gibt, was ich nicht ertrage, ist das, wenn man mir droht. Statt ihm also die nette Version aufzutischen, dass sie irgendwo in Dänemark zur Entgiftung war und niemand kontaktieren durfte, der sie ins alte Fahrwasser zurückbringen konnte und so weiter, gab ich ihm den Todesstoß. Ich konnte einfach nicht anders. In meinen Adern fließt schlechtes Blut, Papa, also halt bloß die Klappe. Wenn in mir denn überhaupt noch Blut fließt, denn das meiste ist jetzt wohl auf dem Küchenboden. Wie gesagt, ich Idiot drehte das Messer in seiner Wunde um und sagte:
    »Ich habe sie verkauft. Für ein paar Gramm Violin.«
    »Was?«
    »Ich habe sie am Bahnhof an einen Deutschen verkauft. Ich weiß nicht, wie der hieß oder wo der wohnt, in München, vielleicht. Vielleicht hockt er jetzt irgendwo mit einem Kumpel in einem Keller in München und lässt sich von ihrem kleinen Mund einen blasen, während Irene so high wie ein Schornstein ist und nicht mal weiß, wessen Schwanz sie da eigentlich gerade im Mund hat, weil sie bloß an den einen denkt, den sie liebt. Und der heißt …«
    Oleg stand mit offenem Mund da und blinzelte unentwegt. Genauso dämlich wie damals, als er mir in der Kebabbude die fünfhundert gegeben hat. Ich breitete die Arme wie ein Scheißzauberkünstler aus: »… Violin!«
    Oleg blinzelte, so schockiert, dass er nicht mal reagierte, als ich mich in Richtung Pistole warf.
    Dachte ich.
    Denn ich hatte etwas vergessen.
    Er war mir nämlich auch damals von der Kebabbude gefolgt, weil er längst kapiert hatte, dass er kein Meth schmecken würde. Er war nicht so blöd, verstand sich auch auf Menschen, darauf, sie zu lesen. Auf jeden Fall einen Dieb.
    Ich hätte es wissen müssen. Hätte mich mit dem halben Schuss begnügen sollen.
    Er schnappte sich die Pistole vor mir. Vielleicht kam er auch nur versehentlich an den Abzug. Der Schalter stand auf »C«. Noch bevor ich zu Boden ging, sah ich, wie fassungslos er war. Dann wurde alles dunkel. Ich hörte, dass er sich über mich beugte. Hörte ein leises Pfeifen, als drehte sich etwas im Leerlauf, als wollte er weinen, konnte es aber nicht. Dann ging er langsam ans andere Ende der Küche. Ein richtiger Junkie funktioniert immer nach einer gewissen
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