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Die Larve

Die Larve

Titel: Die Larve
Autoren: Jo Nesbø
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Harry, Laub, das orange glänzt wie Apfelsinen, während sie in eine kleine Kamera blicken und auf das Klicken des Selbstauslösers warten. Den bildlichen Beweis dafür, dass sie es bis ganz nach oben geschafft hatten, dass sie da gewesen waren, auf dem Gipfel des Glücks. Olegs Zeigefinger, das Weiß um das vordere Gelenk, als er den Abzug drückt. Es gab keinen Weg mehr zurück, zurück dorthin, wo sie einmal gewesen waren. Es war nie genug Zeit gewesen, dieses Flugzeug zu erreichen, es hatte nie ein Flugzeug gegeben, kein Hongkong, nur die Idee von einem Leben, das zu leben niemand von ihnen imstande gewesen war. Harry spürte keine Angst. Nur Trauer. Die kurze Salve klang wie ein einziger Schuss und ließ die Fensterscheiben erzittern. Er spürte den physischen Druck der Kugeln, die ihn mitten in der Brust trafen. Der Rückstoß warf den Lauf der Waffe nach oben, so dass die dritte Kugel ihn am Kopf traf. Er fiel. Es war dunkel unter ihm. Und in diesem Dunkel versank er, es fing ihn auf und hüllte ihn in ein wohltuendes, schmerzloses Nichts. Endlich, dachte er. Und das war Harry Holes letzter Gedanke. Endlich, endlich war er frei.
    Die Rattenmutter spitzte die Ohren. Das Schreien der Jungen war jetzt, da die Glocke ihre zehn Schläge geschlagen hatte und sich die Sirenen der Polizei, die für einen Moment näher gekommen waren, wieder entfernten, viel deutlicher zu hören. Aber da waren noch immer diese schwachen Herzschläge. Irgendwo im Gedächtnis der Ratte waren die Erinnerungen an Pulvergeruch und einen anderen, jüngeren Menschenkörper gespeichert, der auf demselben Küchenboden gelegen und geblutet hatte. Aber das war im Sommer gewesen, lange vor der Geburt ihrer Jungen. Und jener Körper hatte auch nicht vor dem Loch gelegen und ihr den Weg zu dem Nest versperrt.
    Überraschenderweise war der Bauch des Mannes schwerer zu durchdringen, als sie gedacht hatte, sie musste einen anderen Weg finden. Deshalb lief sie zurück zu dem Punkt, an dem sie angefangen hatte.
    Biss noch einmal in die Ledersohle.
    Leckte wieder am Metall, dem salzigen Stahl, der zwischen zwei Fingern der rechten Hand hervorragte.
    Rannte über die Anzugjacke, die nach Schweiß, Blut und Nahrung roch, nach so vielen unterschiedlichen Gerüchen, wie es sie nur in einem Müllcontainer gab.
    Und da waren sie wieder, ein paar Moleküle dieses seltsamen, starken Rauchgeruchs, der nicht ganz weggewaschen worden war. Schon die wenigen Moleküle brannten in den Augen, so dass ihr Tränen kamen und sie kaum atmen konnte.
    Sie lief über den Arm, über die Schulter und ließ sich für einen kurzen Moment von einer blutigen Bandage am Hals ablenken. Dann hörte sie wieder das Fiepen der Jungen und rannte weiter über die Brust. Ein starker Geruch drang aus den zwei runden Löchern im Anzug. Schwefel und Pulver. Das eine Loch führte in Richtung Herz, auf jeden Fall spürte die Ratte dort die schwache Resonanz, wenn es schlug. Wenn es auch nur noch schwach schlug. Sie lief hoch zur Stirn und leckte dort etwas Blut, das in einem schmalen Rinnsal vom Haaransatz hinablief. Rannte weiter nach unten zu den fleischigeren Teilen; Lippen, Nasenflügel, Augenlider. Eine Narbe zog sich über die Wange. Das Rattenhirn arbeitete, wie Rattenhirne in Laboren bei Experimenten mit Labyrinthen arbeiteten, verblüffend rational und effizient. Die Wange, die Mundhöhle. Der Nacken, direkt unter dem Hinterkopf. Dann wäre sie auf der anderen Seite. Ein Rattenleben war hart und einfach. Man tat, was man tun musste.

TEIL V
    Kapitel 44
    D as Mondlicht ließ den Akerselva glitzern, so dass sich das schmutzige Rinnsal wie eine Goldkette durch die Stadt zog. Nicht viele Frauen wagten es, die einsamen Wege am Wasser entlangzugehen, doch Martine war eine von ihnen. Der Tag im Fyrlyset war lang gewesen, und sie war müde. Aber es war einer der langen, guten Tage gewesen. Ein junger Mann kam ihr aus den Schatten entgegen, sah ihr Gesicht im Licht der Laterne, murmelte leise einen Gruß und verschwand wieder.
    Rikard hatte sie ein paarmal, seit sie schwanger war, gebeten, einen anderen Heimweg zu nehmen, aber sie hatte nur geantwortet, dass dies der kürzeste Weg nach Grünerløkka sei. Und dass sie nicht bereit sei, sich ihre Stadt von irgendjemandem wegnehmen zu lassen. Außerdem kannte sie so viele von denen, die sich unter den Brücken aufhielten, dass sie sich hier fast sicherer fühlte als in den angesagten Bars im Westen der Stadt. Sie hatte die zentrale Ambulanz und den
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