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Die Larve

Die Larve

Titel: Die Larve
Autoren: Jo Nesbø
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verließ, würde sie alles hinter sich lassen. Sie durfte nichts nehmen, weder Alkohol noch Drogen, daran hatten weder Papa noch der Arzt, mit dem sie gesprochen hatten, den geringsten Zweifel gelassen. Das Violin würde immer in ihrem Körper sein, immer, aber sie würde es auf Distanz halten. Wie sie auch die Gespenster von Gusto und Ibsen, die sie mit Sicherheit heimsuchen würden, in Schach halten wollte. Und all die armen Seelen, die auch sie für Geld in den Tod geschickt hatte. Den Pulvertod. Sie sollten nur kommen, in ein paar Jahren würden auch sie verblassen. Vielleicht. Es war möglich, dass sie dann nach Oslo zurückkehrte, vielleicht aber auch nicht. Wichtig war nur, dass es ihr gutgehen würde. Dass sie es schaffte, ein Leben zu leben, das es wert war, gelebt zu werden.
    Sie warf einen Blick zu der lesenden Frau hinüber. Und plötzlich hob die Frau den Kopf und sah sie an, als hätte sie ihren Blick gespürt. Sie warf ihr ein kurzes, funkelndes Lächeln zu und versenkte sich wieder in ihren Reiseführer.
    »Lass uns gehen«, sagte Stein.
    »Ja, lass uns gehen«, wiederholte Irene.
    Truls Berntsen fuhr durch Kvadraturen. Rollte über die Tollbugata. Die Prinsens gate hoch und über die Rådhusgata wieder nach unten. Er hatte die Party früh verlassen, sich ins Auto gesetzt und war dann einfach nur wahllos durch die Nacht gefahren. Es war kalt und klar, und Kvadraturen lebte. Die Huren riefen ihm nach, sie witterten das Testosteron. Die Dealer unterboten einander, und aus einer geparkten Corvette dröhnten die Bässe. Umpf. Umpf. Ein Pärchen küsste sich an einer Straßenbahnhaltestelle. Ein Mann in einer offenen Anzugjacke lief glücklich lächelnd über die Straße. An der Ecke der Dronningens gate stand ein einsames Arsenal-Trikot. Niemand, den Truls kannte, sicher jemand Neues. Der Polizeifunk knackte. Und Truls spürte ein seltsames Wohlbehagen: das Blut, das durch die Adern strömte, der Bass, der Rhythmus all der Ereignisse … es war wunderbar, hier zu sitzen und all die kleinen Zahnrädchen zu sehen, die nichts voneinander wussten, sich aber dennoch gegenseitig in Bewegung hielten. Nur er sah das alles, das große Ganze. Und genau so sollte es sein. Denn jetzt war das seine Stadt.
    Der Pastor der Gamlebyen Kirche verriegelte hinter sich die Tür. Lauschte dem Rauschen der Baumkronen auf dem Friedhof und sah nach oben zum Mond. Was für ein schöner Abend. Das Konzert war wunderbar gewesen, und noch dazu gut besucht. Sicher besser als der Gottesdienst am nächsten Morgen. Er seufzte. Die Predigt, die er den leeren Bänken halten musste, sollte von der Vergebung der Sünden handeln. Sein Weg führte über die Stufen nach unten und weiter durch den Friedhof. Er hatte sich entschieden, die gleiche Predigt zu halten wie auf der Beerdigung am Freitag. Der Verstorbene war laut Aussage seiner nächsten Angehörigen – seine geschiedene Frau – erst kürzlich in kriminelle Handlungen verwickelt gewesen, hatte aber auch davor schon ein derart sündiges Leben geführt, dass es allen eventuellen Kirchenbesuchern den Atem verschlagen könnte. Die Sorgen waren allerdings unbegründet, denn außer der Exfrau und ihren Kindern war nur eine Kollegin erschienen, die durch lautes Schluchzen aufgefallen war und der die Exfrau nach der Beerdigung anvertraut hatte, dass sie vermutlich die einzige Stewardess der Fluggesellschaft sei, mit der der Verstorbene nicht geschlafen hatte.
    Als der Pastor an den Gräbern vorbeiging, fiel ihm im Mondschein ein Grabstein mit etwas Weißem auf, als hätte jemand mit Kreide etwas daraufgeschrieben und den Text anschließend wieder weggewischt. Es war der Grabstein von Askild Cato Rud. Auch Askild Øregod genannt. Es war seit jeher eine Regel, dass Gräber nach einer Generation aufgelöst wurden, wenn nicht weiter dafür bezahlt wurde – ein Privileg, das nur den Reichen vorbehalten war. Trotzdem war das Grab des Bettlers Askild Cato Rud aus irgendeinem Grund bewahrt und schließlich, als es wirklich alt war, unter Schutz gestellt worden. Vielleicht war damit die Hoffnung verbunden gewesen, eine Sehenswürdigkeit für besonders Informierte zu erschaffen. Ein Grabstein der Ärmsten der Armen, nur ein winziger Stein, auf dem auch nur die Initialen des Vornamen, der Nachname und die Jahreszahlen vermerkt waren, da Steinmetze nach Buchstaben bezahlt wurden. Ein Antiquar hatte einmal behauptet, sein richtiger Nachname sei Ruud gewesen und dass man auch daran ein wenig gespart habe.
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