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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels
Autoren: Félix J. Palma
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heimatlichen Hafen erreichen konnten, dazu verdammt, ewig die Meere unzähliger Zeiten zu befahren? Gewiss viele. Er selbst konnte ja nur noch mit Mühe bestimmen, woher er genau kam, denn schon während seiner ersten Zeitreise auf der Farm in Addlestone musste er ja aus einem anderen Universum gekommen und danach in die Vergangenheit zurückgereist sein; in die Vergangenheit einer weiteren Welt jedoch, aus der einer seiner Doppelgänger gerade verschwunden war und ihm nur noch das warme Bett zurückgelassen hatte.
    Wells schauderte bei dem Gedanken, wie viele Veränderungen in all den Welten stattgefunden hatten, in denen er und seinesgleichen zu Besuch gewesen waren. Und gewiss waren diese Veränderungen nicht alle nur positiv gewesen, wie die, die er in jener anderen Welt bewirkt hatte und die auch nicht nur seinem Geschick, sondern wahrscheinlich mehr noch einer guten Portion Glück zu verdanken gewesen war. In anderen Welten aber würde er es nicht geschafft, vielleicht sogar alles noch verschlimmert haben. In wie vielen mochte er gar für eine Katastrophe verantwortlich sein! Vielleicht, dachte er bestürzt, war er deswegen so besessen vom Schicksal der Menschen; von dieser Gewissheit, dass die Vernichtung der Menschheit unvermeidlich war. Vielleicht, dachte Wells, hatten ja alle seine Doppelgänger – von denen er nur den einen auf der Strandpromenade von Southsea persönlich kennengelernt hatte – eine Art gemeinsames Bewusstsein, ein unbewusstes, vielschichtiges Wissen, eher eine Art Intuition, die sie an allem, was die anderen erlebten, mitleiden, mittrauern ließ. Wie viele seiner Doppelgänger hatten dann die Vernichtung der Menschheit miterlebt?, fragte er sich schaudernd. Wenigstens einen kannte er, der bei diesem apokalyptischen Ereignis noch zugegen sein müsste, wenn er seiner Wirklichkeit nicht entronnen wäre: sich selbst. Er hoffte jedoch von ganzem Herzen, jene Schuld abgetragen zu haben, indem er der anderen Welt, in der er den Gesandten getötet hatte, zu einem friedlichen Weiterleben verholfen und sich damit vielleicht eine Universalabsolution verdient zu haben, oder was immer zu seiner Erlösung nötig war; aber … In wie vielen Welten war die Ungeschicktheit oder das Unvermögen des Schriftstellers H. G. Wells verantwortlich für die Auslöschung der Menschheit? Und hatte er als Ausgleich für jedes dieser Male wirklich eine andere Welt gerettet? Zeigte seine Bilanz ein Soll oder ein Haben?
    Doch da endete der Schrecken noch lange nicht, dachte Wells, da er sich ja wohl kaum für einzigartig halten konnte, nicht einmal hinsichtlich seiner fluchbeladenen «Gabe» … Clayton hatte ihm ja schon verraten, dass er selbst andere Zeitreisende kennengelernt hatte. Also musste es noch viele andere Menschen geben, die mit dieser Gabe oder Krankheit behaftet waren; noch mehr unerkannte Zeitreisende, die sich im ausladenden Geäst des dichtbelaubten Stammbaums der Welten verbargen. Reisten sie gerade jetzt von Welt zu Welt, vielleicht mit finstereren Absichten, als er sie gehabt hatte? Wells wiegte bedächtig den Kopf, denn in dem Nebel des Grauens, der ihn einzuhüllen drohte, spürte er wieder das altbekannte und stets sehnlich erwartete Kribbeln in den Fingerspitzen: Da kündigte sich Material für einen neuen Roman an. Für einen großen Roman. Aber er war ja kein Schriftsteller mehr, dachte er wehmütig und nahm seinen Weg zu den wartenden Kutschen wieder auf. Er hatte nicht mehr die Kraft und wohl auch nicht mehr genug Lebenszeit, um einen großen Roman zu schreiben oder um eine Welt zu retten oder zu zerstören oder mehrere oder sogar den ganzen universalen Baum abzuhacken. Wenn die Menschheit auch noch nicht erlöschen würde, er selbst würde es schon bald; und wenn er ging, spürten seine Doppelgänger in allen Welten vielleicht so etwas wie den Hauch einer Krähenfeder über ihren Rücken streichen.
    Alles war möglich in einem Universum ohne Ende, dachte er, als er sich noch einmal umwandte, um aus der Ferne einen letzten Blick auf den bunten Ballon und den fröhlichen Trubel darum herum zu werfen. Als er das von der Menge umringte Liebespaar erblickte, schmunzelte Wells. Hoffentlich stimmte es, was er eben gedacht hatte, als er das Lächeln auf den Lippen des Mädchens erblühen sah. Hoffentlich war Murrays und Emmas Liebe das Einzige, was wirklich unveränderlich blieb in der wechselnden Landschaft des Universums! Hoffentlich würde sie in keiner der endlos möglichen Welten jemals
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