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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels
Autoren: Félix J. Palma
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später in der Holt-Academy von Wrexham erst geschmeidiger werden würde. Den jugendlichen Wells jener Tage hatte vor allem der Unterricht von Horace Byatt während der Monate in Midhurst geprägt, und er empfand eine vage Faszination für den Beruf des Lehrers, der zum Wohl der Gesellschaft so viel mehr beitrug als ein Autor.
    «Und sind Sie’s geworden?», fragte der Junge unvermittelt, Wells aus seinen Gedanken reißend.
    «Was …?»
    «Schriftsteller. Sind Sie einer geworden?»
    Wells betrachtete ihn schweigend, während er sich eine Antwort überlegte.
    «Nein, ich bin nur ein einfacher Apothekergehilfe», sagte er bedauernd, «und führe ein ganz normales Leben. Darum habe ich mir erlaubt, dir diesen Rat zu geben, mein Junge; weil ich aus eigener Erfahrung weiß, wie schrecklich es ist, ein Leben zu leben, das man nicht mag. Wenn du glaubst, der Welt etwas geben zu können, dann kämpfe dafür mit all deiner Kraft. Oder du wirst ein trübsinniger und verbitterter Apothekergehilfe, der von Geschichten träumt, die er nie schreiben wird.»
    «Das tut mir leid für Sie», sagte der Junge, und machte sich gar nicht die Mühe, Mitleid anklingen zu lassen. Nach kurzem Zögern fügte er etwas verschämt hinzu: «Darf ich fragen, warum Sie sich damals nicht umgebracht haben?»
    Die Frage überraschte Wells, obwohl sie das nicht hätte tun sollen, war sie doch nur ein früher Beweis des eigenen Pragmatismus: Er hatte alle Möglichkeiten für sich erschöpft; warum also führte er dann dieses unbefriedigende Leben?
    «Na ja …, die Bücher haben mich am Leben gehalten», improvisierte er.
    «Die Bücher?»
    «Ja. Lesen ist das Einzige, was mir Freude macht, und es gibt noch so viele Bücher zu lesen … Allein dafür lohnt es sich, am Leben zu bleiben. Bücher machen mich glücklich, helfen mir, mich der Wirklichkeit zu entziehen.» Die Andeutung eines Lächelns umspielte seine Lippen, während er schweigend ins Wasser starrte. «Die Arbeit der Schriftsteller ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Sie bringen die Menschen zum Träumen; all jene, die allein nicht träumen können. Und die Menschen brauchen Träume. Gibt es eine bedeutendere Arbeit als diese?»
    Wells schwieg und schämte sich ein wenig wegen des fordernden Tons, den er angeschlagen hatte, der andererseits den Jungen aber nicht sonderlich zu beeindrucken schien. Seine etwas geringschätzig herabgezogenen Mundwinkel drückten aus, dass ihm jede Menge andere Dinge einfielen, die für die menschliche Gesellschaft wichtiger waren als Bücher. Aber der Junge schien nicht die Kraft oder keine Lust zu haben, ihm zu widersprechen. Vielleicht war ihm die Meinung des Fremden auch egal, und er empfand insgeheim nur Mitleid mit ihm. Dann bückte sich der Junge, hob einen Stein auf und warf ihn in hohem Bogen ins Wasser, als wollte er Wells zu verstehen geben, dass, soweit es ihn betraf, dieses seltsame Gespräch als beendet gelten könnte. An der Seite des Kinns, die Wells bisher nicht hatte sehen können, trug der Junge einen kleinen Verband.
    «Was ist da passiert?», fragte Wells, sich ans eigene Kinn tippend.
    «Ach, heute Morgen bin ich die Treppe hinuntergefallen. Manchmal versuche ich, mehr Stoffballen zu tragen, als ich wirklich kann, damit ich früher fertig werde; aber heute Morgen habe ich es wohl übertrieben», erwiderte der Junge, ein Lächeln andeutend. «Da werde ich vermutlich eine Narbe zurückbehalten.»
    Wells überlegte im Stillen, ob er sich an den Unfall erinnern konnte, kam jedoch zu keinem Ergebnis. Jedenfalls würde der Junge keine Narbe zurückbehalten, wie sich an ihm selbst beweisen ließ.
    «Darum würde ich mir keine Sorgen machen», sagte er beruhigend. «Das sieht meistens schlimmer aus, als es tatsächlich ist.»
    Der Junge machte ein gleichgültiges Gesicht, als sei es ihm im Grunde egal, und Wells beschloss, endlich zu dem Punkt zu kommen, der für ihn der eigentliche Anlass dieser Unterhaltung mit sich selbst gewesen war.
    «Soll ich dir erzählen, von welcher Geschichte ich zuletzt geträumt habe?», fragte er wie beiläufig.
    Der Junge zuckte gelangweilt die Schultern, als machte ihn das nicht wirklich neugierig. Wells zwang sich, seinen Unmut hinunterzuschlucken, und versuchte, ganz entspannt zu wirken, als er auf den sternenübersäten Himmel zeigte, der sich über ihren Köpfen dehnte.
    «Sieh dir den Himmel an, Junge. Hast du schon einmal darüber nachgedacht, ob es auf einigen dieser Millionen von Planeten da oben im
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