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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens
Autoren: Carlos Castaneda
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Aufmerksamkeit, die in diesen Block eingedrungen war. Als er getötet wurde, hielt er diesen Stein fest, um all seine Konzentration zu versammeln. Der Nagual sagte, die Kraft dieses Mannes sei aus seinem Körper in diesen Stein eingegangen. Er wußte, was er tat, er wollte nicht, daß seine Feinde einen Vorteil davon hätten, daß sie sein Fleisch verzehrten. Der Nagual sagte, daß diejenigen, die ihn töteten, dies wußten, darum aßen sie ihn auch bei lebendigem Leib, um soviel Kraft zu bekommen, wie noch übrig war. Den Stein begruben sie wahrscheinlich, um irgendwelche Schwierigkeiten zu vermeiden. Und la Gorda und ich fanden ihn, und wie zwei Narren gruben wir ihn aus. «
    La Gorda nickte drei- oder viermal bestätigend. Ihr Gesicht war sehr ernst.
    »Der Nagual sagte uns, daß die zweite Aufmerksamkeit die wildeste Sache ist, die es gibt«, sagte sie. »Wenn sie sich auf Objekte konzentriert, gibt es nichts Fürchterlicheres als diese.«
    »Das Schreckliche ist, daß wir festhängen«, sagte Nestor.
    »Der Mann, der den Stein besaß, hing an seinem Leben und an seiner Kraft, und darum war er so sehr entsetzt, als er merkte, daß sein Fleisch aufgegessen wurde. Der Nagual sagte, wenn der Mann sich von seinem Besitzgefühl losgesagt und sich seinem Tod überlassen hätte, wie immer er ihn ereilen mochte, dann hätte es für ihn keine Furcht gegeben.«
    Das Gespräch verebbte. Ich fragte die anderen, ob sie noch etwas zu sagen hätten. Die Schwesterchen starrten mich an. Benigno kicherte und verbarg sein Gesicht hinter seinem Hut.
    »Pablito und ich sind in den Pyramiden von Tula gewesen«, sagte er schließlich. »Wir sind in allen Pyramiden gewesen, die es in Mexiko gibt. Wir lieben sie.«
    »Warum habt ihr all die Pyramiden aufgesucht?« fragte ich.
    »Ich weiß wirklich nicht, warum wir hingegangen sind«, sagte er. »Vielleicht war es deshalb, weil der Nagual Juan Matus uns verboten hatte, es zu tun.“
    »Und wie steht's mit dir, Pablito?«
    »Ich bin hingegangen, um zu lernen«, antwortete er mürrisch und lachte. »Ich habe in der Stadt Tula gelebt. Ich kenne diese Pyramiden wie meine Handfläche. Der Nagual hat mir erzählt, daß auch er einmal dort gelebt hat. Er wußte alles über die Pyramiden. Er war selber ein Tolteke.«
    Jetzt erkannte ich, daß es mehr als Neugier gewesen war, die mich veranlaßt hatte, die archäologische Fundstätte in Tula aufzusuchen. Der Hauptgrund, warum ich die Einladung meines Freundes damals annahm, war, daß la Gorda und die anderen, als ich sie zum erstenmal besuchte, mir etwas erzählt hatten, das Don Juan mir gegenüber nie erwähnt hatte, nämlich daß er sich selbst für einen kulturellen Nachfahren der Tolteken hielt. Tula war einst das alte Epizentrum des Toltekenreiches.
    »Was haltet ihr davon, daß die Atlanter in der Nacht umherwandern?« fragte ich Pablito.
    »Klar wandern sie in der Nacht umher. Diese Dinger sind schon seit Jahrhunderten da. Niemand weiß, wer die Pyramiden gebaut hat. Der Nagual Juan Matus hat mir selbst gesagt, daß die Spanier sie nicht als erste entdeckten. Der Nagual sagte, daß es vor ihnen schon andere gab.
    Gott allein weiß wie viele.«
    »Was, meinst du, stellen diese vier Steinfiguren dar?« fragte ich.
    »Sie sind keine Männer, sondern Frauen«, sagte er. »Diese Pyramide ist das Zentrum von Ordnung und Stabilität. Diese Figuren sind ihre vier Ecken. Sie sind die vier Winde, die vier Himmelsrichtungen. Sie sind die Grundlage, die Basis der Pyramide. Sie müssen Frauen sein, männliche Frauen, falls du sie so nennen willst. Und du weißt ja selbst, daß wir Männer nicht so fest sind. Wir sind ein gutes Bindemittel, ein Leim, der die Dinge zusammenhält, aber das ist auch alles. Der Nagual Juan Matus sagte, daß das Geheimnis der Pyramide in ihrer Struktur liegt.
    Die vier Ecken sind an die Spitze versetzt. Die Pyramide selbst ist der Mann, der von seinen Kriegerinnen getragen wird, ein Mann, der seine Stützen an die höchste Stelle erhoben hat. Verstehst du, was ich meine?«
    Mein Gesicht mochte einen perplexen Ausdruck zeigen. Pablito lachte. Es war ein höfliches Lachen.
    »Nein. Ich versteh nicht, was du meinst«, sagte ich. »Aber es ist wohl deswegen, weil Don Juan mir niemals etwas davon gesagt hat. Das Thema ist völlig neu für mich. Bitte, erzähle mir alles, was du weißt.«
    »Die Atlander sind das Nagual; sie sind Träumer. Sie stellen die Ordnung der zutage getretenen zweiten Aufmerksamkeit dar, und das ist der
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