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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens
Autoren: Carlos Castaneda
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zusammen »die Schwesterchen« genannt wurden. Die vier Männer waren, in der Reihenfolge ihres Alters, Eligio, Benigno, Nestor und Pablito; die letzteren drei wurden »die Genaros« genannt, weil sie Don Genaro sehr nahe gestanden hatten.
    Daß Nestor, Pablito und Eligio, der inzwischen verschwunden war, Schüler waren, hatte ich schon gewußt. Aber man hatte mich in dem Glauben gelassen, daß die vier Mädchen Pablitos Schwestern wären, und Soledad ihre Mutter. Im Lauf der Jahre hatte ich Soledad besser kennengelernt, und ich hatte sie stets respektvoll »Dona Soledad« genannt, da sie Don Juan dem Alter nach näher stand. Auch Lydia und Rosa waren mir vorgestellt worden, aber unsere Bekanntschaft war zu kurz und zu beiläufig, als daß ich begriffen hätte, wer sie wirklich waren.
    La Gorda und Josefina kannte ich nur dem Namen nach. Benigno hatte ich kennengelernt, aber ich hatte keine Ahnung, daß er mit Don Juan und Don Genaro in Verbindung stand.
    Aus mir unbegreiflichen Gründen hatten sie anscheinend alle irgendwie auf meine Rückkehr nach Mexiko gewartet. Sie klärten mich auf, daß sie von mir erwarteten, ich solle Don Juans Stelle als ihr Führer, ihr »Nagual«, einnehmen. Sie erzählten mir, daß Don Juan und Don Genaro vom Antlitz der Erde verschwunden seien, und Eligio ebenfalls. Die Frauen und die Männer glaubten, daß die drei nicht gestorben wären - vielmehr seien sie in eine andere Welt eingegangen, eine Welt von besonderer Art, anders als die Welt unseres alltäglichen Lebens, doch ebenso wirklich.
    Mit den Frauen, vor allem mit Dona Soledad, hatte ich von unserer ersten Begegnung an heftige Zusammenstöße. Gleichwohl erschienen sie mir wie Instrumente, die bei mir eine Katharsis bewirkten. Mein Kontakt mit ihnen löste einen rätselhaften Aufruhr in meinem Leben aus. Vom ersten Augenblick an, als wir uns begegneten, ergaben sich dramatische Veränderungen in meinem Denken und Begreifen. All dies geschah aber nicht auf bewußter Ebene - immerhin fühlte ich mich nach meinem ersten Besuch bei ihnen verwirrter denn je, und doch fand ich mitten im Chaos eine überraschend feste Basis. Unter dem Einfluß unseres Zusammentreffens entdeckte ich in mir Kräfte, die zu besitzen ich nicht geahnt hatte.
    La Gorda und die Schwesterchen waren vollendete »Träumerinnen«; sie gaben mir bereitwillig Anleitung und führten mir ihre unglaublichen Leistungen vor. Don Juan hatte die Kunst des »Träumens« als die Fähigkeit bezeichnet, die eigenen alltäglichen Träume zu nutzen und sie zu kontrollierter Bewußtheit zu führen, und zwar kraft einer speziellen Art der Aufmerksamkeit, die er und Don Genaro als die »zweite Aufmerksamkeit« bezeichneten.
    Ich erwartete daher, daß die drei Männer mir ihre Errungenschaften in einem anderen Aspekt der Lehren Don Juans und Don Genaros zeigen würden, nämlich der »Kunst des Pirschens«.
    Die Kunst des Pirschens war mir als ein System von Vorkehrungen und Einstellungen vorgestellt worden, das einen befähigte, aus jeder vorstellbaren Situation das Beste zu machen.
    Doch was die drei Genaros mir über das Pirschen erzählten, war nicht von jener inneren Logik und Gereimtheit, die ich erwartet hatte. Ich schloß daraus, daß die Männer entweder keine echten Praktiker der Kunst waren, oder daß sie damals einfach nicht mit mir darüber sprechen oder sie mir vorführen wollten.
    Ich gab es also auf, weiter Fragen zu stellen, um allen Gelegenheit zu geben, mit mir vertraut zu werden; doch sie alle, die Männer wie die Frauen, ließen es dabei bewenden und waren der festen Überzeugung, daß ich, da ich keine Fragen mehr stellte, endlich wie ein Nagual handelte.
    Jeder von ihnen verlangte zuversichtlich meine Führung und meinen Rat.
    Um ihrem Verlangen nachzukommen, war ich gezwungen, alles, was Don Juan und Don Genaro mich gelehrt hatten, von Grund auf neu zu überdenken, um noch tiefer in die Kunst der Zauberei einzudringen.

Erster Teil
DAS ANDERE SELBST
      
      

1. Die Fixierung der zweiten Aufmerksamkeit
      
    Es war spät am Nachmittag, als ich da eintraf, wo la Gorda und die Schwesterchen wohnten. La Gorda war allein, sie saß vor der Tür und starrte zu den Bergen hinüber. Sie erschrak, als sie mich sah. Sie erklärte, daß sie in eine Erinnerung vertieft gewesen und einen Moment lang drauf und dran gewesen sei, sich an etwas Unbestimmtes zu erinnern, das mit mir zu tun hätte.
    Später am Abend, nach dem Essen, saßen la Gorda, die drei Schwesterchen,
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