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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens
Autoren: Carlos Castaneda
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es sei ihr auch nicht gesagt worden, daß es sich etwa anders verhielte. Hinterher hatte der Nagual Juan Matus ihr lediglich gesagt, daß sie verpflichtet sei, den anderen Lehrlingen, besonders aber Josefina zu helfen und daß eines Tages ich zurückkehren würde, um ihr den letzten Stoß zu geben, den sie brauchte, um ganz in das andere Selbst hinüberzugehen. Sie war an mich und Josefina gebunden. Bei unserem Zusammen- Träumen unter Zuleicas Aufsicht hatten wir riesige Teile unserer Leuchtkraft ausgetauscht. Dies war auch der Grund, warum wir gemeinsam dem Druck des anderen Selbst standhalten konnten, als wir in Fleisch und Blut darein eintraten. Der Nagual sagte ihr auch, daß nur die Kraft der Krieger seines Trupps die Überschreitung damals so leicht gemacht hatte und daß sie, wenn sie einmal allein hinübergehen müsse, darauf gefaßt sein solle, es im Träumen zu tun.
    Nachdem wir aufgestanden waren, kam Florinda zu mir herüber. Sie nahm meinen Arm und ging mit mir im Zimmer umher, während Don Juan und seine Krieger mit den Lehrlingen sprachen. Sie sagte, ich solle mich nicht durch die Ereignisse dieser Nacht an der Brücke irremachen lassen. Ich dürfe nicht glauben, wie der Nagual Juan Matus es einmal geglaubt hatte, daß es einen realen, physischen Durchlass in das andere Selbst gäbe. Die Spalte, die ich gesehen hatte, sei lediglich ein Gebilde ihrer Absicht, die durch das Zusammenwirken von des Naguals Juan Matus besessenem Glauben an den Durchlass mit Silvio Manuels bizarrem Humor Gestalt angenommen habe; das Zusammenwirken der beiden habe die kosmische Vagina hervorgebracht. Aber Florinda meinte, daß der Durchlass von einem Selbst zum anderen keine physische Realität habe. In der kosmischen Vagina drücke sich die Kraft der beiden Männer aus, das »Rad der Zeit« zu bewegen.
    Wenn Florinda und ihre Gefährten von Zeit sprachen, meinten sie nicht das, was sich mit dem Gang eines Uhrwerks messen läßt. Zeit ist vielmehr das Wesen der Aufmerksamkeit; die Emanationen des Adlers bestehen aus Zeit; und im eigentlichsten Sinn macht man, wenn man in irgendeinen Aspekt des anderen Selbst eintritt, Bekanntschaft mit der Zeit.
    Florinda versicherte mir, daß die Krieger in jener Nacht, als wir in geometrischer Formation saßen, ihre letzte Chance gehabt hätten, mir und den Lehrlingen zu helfen, damit wir das Rad der Zeit sähen. Das Rad der Zeit, so sagte sie, sei so etwas wie ein Zustand gesteigerter Bewußtheit, der zum anderen Selbst gehöre, ähnlich wie die linksseitige Bewußtheit zum Selbst des Alltagslebens gehöre, und es lasse sich physikalisch als ein Tunnel von unendlicher Länge und Breite beschreiben; ein Tunnel mit spiegelnden Rillen; jede Rille ist unendlich, und es gibt davon unendlich viele. Alle lebenden Wesen müssen, so will es die Lebenskraft, zwanghaft in eine dieser Rillen starren. In diese Rille zu starren, bedeutet, von ihr gefangen zu sein, sie zu leben.
    Was die Krieger als den Willen bezeichneten, so versicherte sie, gehöre dem Rad der Zeit an. Es sei so etwas wie eine Ranke oder ein ungeheures Tentakel, das wir alle besitzen. Sie sagte, es sei das höchste Ziel der Krieger, zu lernen, wie man dieses Tentakel auf das Rad der Zeit richtet, um es kreisen zu lassen. Krieger, denen es gelungen sei, das Rad der Zeit kreisen zu lassen, könnten in jede der Rillen starren und aus ihr herausziehen, was immer sie wollten - wie etwa die kosmische Vagina. Wenn man aber zwanghaft in einer Zeit-Rille gefangen sei, dann bedeute dies, daß man die Bilder dieser Rille nur im Zurückweichen wahrnimmt. Von der bannenden Kraft dieser Furchen frei zu sein, bedeute hingegen, daß man in beide Richtungen blicken kann und die Bilder zurückweichen oder herannahen sieht.
    Florinda unterbrach sich und umarmte mich. Sie flüsterte mir ins Ohr, daß sie eines Tages, wenn ich die Ganzheit meines Selbst gewonnen hätte, wiederkehren würde, um ihre Unterweisungen abzuschließen.
    Don Juan rief alle anderen zu mir heran. Sie umringten mich. Don Juan sprach als erster. Er sagte, ich könnte nicht mit ihnen auf die Reise gehen, denn es sei unmöglich, daß ich mich meiner Aufgabe entziehe. Unter diesen Umständen konnten sie mir nur noch alles Gute wünschen. Denn Krieger, so fügte er hinzu, haben kein eigenes Leben. Von dem Augenblick an, da sie das Wesen der Bewußtheit verstehen, hören sie auf, Personen zu sein, und die menschliche Kondition ist nicht mehr ihr Teil. Ich aber, so sagte er, hätte meine
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