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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens
Autoren: Carlos Castaneda
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seine Krieger über die Brücke gingen, bevor wir es taten. Dona Soledad und Eligio gingen automatisch mit ihnen. Die Nagual-Frau ging als letzte hinüber. Auf der anderen Seite der Brücke gab Silvio Manuel uns ein Zeichen, wir sollten vorangehen. Ohne uns abzusprechen, gingen wir alle zugleich los. Mitten auf der Brücke schienen Lydia, Rosa und Pablito unfähig, noch einen weiteren Schritt zu tun. Benigno und Nestor gingen beinahe bis ans Ende und blieben dann stehen. Nur la Gorda, Josefina und ich kamen dort an, wo Don Juan und die anderen standen.
    Und dann geschah etwas, ganz ähnlich dem Geschehnis, als wir zum ersten Mal versuchten, hindurchzugehen. Silvio Manuel und Eligio hielten eine - wie es mir schien - wirkliche Spalte auf. Ich hatte genügend Energie, um meine Aufmerksamkeit darauf zu konzentrieren. Es war keine Öffnung in dem Hügel, der sich am Ende der Brücke erhob, auch war es keine Öffnung in der Nebelwand, wenngleich ich einen nebelähnlichen Dampf um die Spalte herum feststellen konnte. Es war eine dunkle, geheimnisvolle Öffnung, abgehoben von allem anderen; sie war mannshoch, aber eng. Don Genaro nannte sie scherzend die »kosmische Vagina« - eine Bemerkung, die seine Gefährten zu brüllendem Gelächter hinriß. La Gorda und Josefina hielten sich an mir fest, und wir traten ein.
    Sofort hatte ich das Gefühl, als würde ich erdrückt. Die gleiche unberechenbare Macht, die mich beim ersten Mal beinahe hatte zerbersten lassen, erfaßte mich jetzt wieder. Ich spürte, wie la Gorda und Josefina mit mir verschmolzen. Ich war irgendwie breiter als sie, und die Macht drückte mich platt gegen sie.
    Als nächstes wußte ich nur, daß ich am Boden lag, und la Gorda und Josefina auf mir. Silvio Manuel half uns aufzustehen. Er sagte mir, es werde uns für diesmal unmöglich sein, sie auf ihrer Reise zu begleiten, doch später vielleicht, wenn wir uns zur Vollständigkeit bekehrt hätten, würde der Adler uns hindurchlassen.
    Während wir zu Silvio Manuels Haus zurückgingen, sagte er mir mit beinah flüsternder Stimme, daß mein Weg und ihr Weg in dieser Nacht auseinander führen würden. Er sagte, daß unsere Wege sich nie wieder kreuzen würden, und daß ich allein sei. Er ermahnte mich, genügsam zu sein und alle meine Energie zu nutzen, ohne ein Stückchen davon zu verschwenden. Er versicherte mir, daß ich, falls ich ohne übermäßige Entleerung die Ganzheit meines Selbst erreichte, die Energie haben würde, meine Aufgabe zu erfüllen. Falls ich mich aber übermäßig entleerte, bevor ich meine menschliche Form verloren hätte, sei es um mich geschehen.
    Ich fragte ihn, ob es eine Möglichkeit gebe, solche Entleerung zu vermeiden. Er schüttelte den Kopf. Er sagte, es gebe wohl einen Weg, aber nicht für mich. Denn ob es gelänge oder nicht, sei nicht eine Frage meines Willens. Dann offenbarte er mir meine Aufgabe. Doch er sagte mir nicht, wie ich sie ausführen sollte. Eines Tages, so sagte er, werde der Adler jemanden auf meinen Weg stellen, der mir sagen würde, wie ich es machen solle. Und frei würde ich erst sein, nachdem dieses mir gelungen wäre.
    Als wir zum Haus kamen, versammelten wir uns alle im großen Zimmer. Don Juan saß in der Mitte des Zimmers, mit dem Gesicht nach Südosten. Die acht weiblichen Krieger umringten ihn. Sie saßen in Paaren an den vier Kardinalpunkten und blickten ebenfalls nach Südosten. Dann bildeten die drei männlichen Krieger außerhalb des Kreises ein Dreieck - mit Silvio Manuel am Scheitelpunkt, der nach Südosten wies. Die zwei weiblichen Kuriere flankierten ihn, und die zwei männlichen Kuriere saßen vor ihm, fast an der Wand.
    Die Nagual-Frau hieß die männlichen Lehrlinge sich gegen die östliche Wand zu setzen. Die Frauen ließ sie an der westlichen Wand sitzen. Dann führte sie mich zu einem Platz direkt hinter Don Juan. Dort setzten wir uns nebeneinander.
    Wir blieben nur für einen - wie mir schien - kurzen Augenblick sitzen, und doch spürte ich einen Ansturm ungewöhnlicher Energie in meinem Körper. Ich glaubte, wir hätten uns hingesetzt und wären gleich wieder aufgestanden. Als ich die Nagual-Frau fragte, warum wir so rasch aufstanden, erwiderte sie, daß wir viele Stunden dort gesessen hätten und daß ich mich eines Tages, bevor ich in die dritte Aufmerksamkeit einginge, an alles wieder erinnern würde.
    La Gorda hingegen erzählte mir, sie habe nicht nur das Gefühl gehabt, daß wir nur einen Augenblick in diesem Raum saßen, sondern
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