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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens
Autoren: Carlos Castaneda
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Richtung drehen - erläuterte, hatte ich es als eine Metapher verstanden, die einen Wandel der Einstellung bezeichnete. Florinda sagte nun, daß diese Bezeichnung zwar richtig, allerdings keine Metapher sei. Es sei wahr, daß die Pirscher ihren Kopf umdrehen; aber sie tun es nicht, um in eine neue Richtung zu blicken, sondern um die Zeit auf andere Weise zu betrachten. Die Pirscher sehen die kommende Zeit. Normalerweise sehen wir die Zeit, wie sie hinter uns zurückweicht. Nur die Pirscher können dies umkehren und die Zeit betrachten, wie sie auf sie zukommt.
    Den Kopf umzudrehen, so erklärte Florinda, bedeute nicht, daß man in die Zukunft blickt, sondern daß man die Zeit als etwas Konkretes, wiewohl Unbegreifliches sieht. Es sei daher überflüssig, wenn ich mir auszudenken versuchte, was Dona Soledad und ich wohl gemacht hatten. All dies aber würde mir wohl verständlich, wenn ich erst die Ganzheit meines Selbst erkennen und dann auch die notwendige Energie haben würde, um dieses Mysterium zu entdecken.
    Im Ton eines Menschen, der gute Noten erteilt, erklärte Florinda mir, daß Dona Soledad eine hervorragende Pirscherin sei; sie bezeichnete sie als die größte von allen. Sie sagte, Dona Soledad könne jedesmal die parallelen Linien überqueren. Außerdem sei noch keinem der Krieger aus Don Juan Matus' Trupp gelungen, was ihr gelungen war: Dona Soledad hatte, kraft ihrer makellosen Pirschtechniken, ihr Parallel-Wesen gefunden.
    Florinda erklärte, was immer ich mit dem Nagual Juan Matus oder mit Silvio Manuel oder Genaro oder Zuleica erlebt hätte, seien nur winzige Ausschnitte der zweiten Aufmerksamkeit gewesen. Was nun Dona Soledad mich erleben ließ, sei nur ein weiterer winziger, aber anderer Ausschnitt.
    Dona Soledad hatte mich nicht nur die herankommende Zeit sehen lassen, sondern sie hatte mich auch zu ihrem Parallel-Wesen mitgenommen. Florinda beschrieb das Parallel-Wesen als ein Gegengewicht, das alle lebenden Geschöpfe aufgrund der Tatsache haben, daß sie leuchtende Wesen und von unerklärlicher Energie erfüllt sind. Ein Parallel-Wesen einer Person ist eine andere Person gleichen Geschlechts, die eng und unlösbar mit der ersten verbunden ist.
    Sie koexistieren miteinander in der Welt. Die beiden Parallel-Wesen sind wie die zwei Enden ein und desselben Stabes.
    Nun ist es Kriegern beinah unmöglich, ihr Parallel-Wesen zu finden, weil es im Leben eines Kriegers zu viele ablenkende Faktoren, zu viele andere
    Prioritäten gibt. Doch wem es gelinge, so sagte sie, diese große Tat zu vollbringen, der werde in seinem Parallel-Wesen - ähnlich wie Dona Soledad - eine unerschöpfliche Quelle der Jugend und Energie finden.
    Florinda stand unvermittelt auf und führte mich in Dona Soledads Zimmer. Vielleicht weil ich wußte, daß es unsere letzte Begegnung sein sollte, befiel mich eine seltsame Furcht. Dona Soledad lächelte mir zu, als ich ihr erzählte, was Florinda mir gerade gesagt hatte. Mit der Demut einer echten Kriegerin, so schien es mir, sagte sie, daß sie mich überhaupt nichts gelehrt habe, daß sie lediglich bestrebt gewesen sei, mir ihr Parallel-Wesen zu zeigen, denn dorthin würde sie sich zurückziehen, wenn der Nagual Juan Matus und seine Krieger einmal die Welt verließen. Es sei aber noch etwas anderes geschehen, das ihr Verständnis übersteige. Florinda, so sagte sie, habe ihr erklärt, daß wir gegenseitig unsere Energie hochtransformiert hätten und daß dies uns die herannahende Zeit sehen ließ, allerdings nicht in kleinen Portionen, wie Florinda es von uns erwartet hätte, sondern in unbegreiflich großen Happen, wie es meinem unbeherrschten Charakter entspreche.
    Das Ergebnis unserer letzten Zusammenkunft war noch verblüffender. Dona Soledad, ihr Parallel-Wesen und ich blieben eine wie mir schien -außerordentlich lange Zeit zusammen. Ich sah jeden einzelnen Zug im Gesicht des Parallel-Wesens. Ich glaubte, sie versuchte mir zu sagen, wer sie sei. Auch schien sie zu wissen, daß dies unsere letzte Begegnung war. In ihren Augen lag ein so überwältigender Ausdruck der Zerbrechlichkeit. Dann wehte eine wind-ähnliche Kraft uns davon - in etwas hinein, das für mich unverständlich war.
    Plötzlich half Florinda mir aufzustehen. Sie hielt mich am Arm und führte mich zur Tür. Dona Soledad kam mit uns. Florinda sagte, daß es mir schwer fallen würde, mich an all das zu erinnern, was geschehen war, weil ich mich in meiner Rationalität gehenließ ein Zustand, der nur noch
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