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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens
Autoren: Carlos Castaneda
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Kasten, die Liste der zu rekapitulierenden Ereignisse und Technik des Atmens - für die allerwichtigsten Aufgaben angesehen, die ein Krieger erfüllen könne. Ihr Wohltäter war der Meinung, daß eine gründliche Rekapitulation das gründlichste Mittel sei, um die menschliche Form zu verlieren.
    Daher falle es den Pirschern nach der Rekapitulation ihres Lebens leichter, sich alles Nicht-Tun des Selbst zunutze zu machen, wie etwa das Auslöschen der persönlichen Geschichte, das Verlieren der eigenen Wichtigkeit, das Unterbrechen der Routinegewohnheiten usw. Florinda sagte, ihr Wohltäter sei für sie alle ein Beispiel dafür gewesen, was er sagte; und zwar dadurch, daß er zuerst aufgrund seiner Prämissen handelte, und ihnen dann die Begründungen eines Kriegers für seine Handlungen gab. In Florindas Fall hatte er, ein Meister in der Kunst des Pirschens, die List ihrer Krankheit und Heilung angewendet, die nicht nur dem Weg des Kriegers entsprach, sondern auch eine meisterhafte Einführung in die sieben Grundprinzipien der Kunst des Pirschens war. Zuerst zog er Florinda auf sein eigenes Schlachtfeld, wo sie ihm ausgeliefert war. Dann zwang er sie, das Unwesentliche abzuwerfen; er lehrte sie, ihr Leben mit einer Entscheidung aufs Spiel zu setzen; er lehrte sie, sich zu entspannen; um ihr zu helfen, ihre Kräfte neu zu gruppieren, vermittelte er ihr eine andere, neue Stimmung des Optimismus und des Selbstvertrauens; er lehrte sie, die Zeit zu verdichten; und schließlich zeigte er ihr, daß ein Pirscher sich nie in den Vordergrund stellt.
    Das letztere Prinzip beeindruckte Florinda am stärksten. In ihren Augen war darin alles zusammengefaßt, was sie mich mit ihren Instruktionen in letzter Sekunde lehren wollte.
    » Mein Wohltäter war der Chef «, sagte Florinda. »Und doch hätte niemand, der ihn sah, es geglaubt. Er stellte immer eine seiner Kriegerinnen in den Vordergrund, während er selbst sich unbeschwert unter die Patienten mischte, so tat, als wäre er einer von ihnen oder den alten Narren spielte, der dauernd mit einem selbstgemachten Besen das Laub aufkehrte.«
    Florinda erklärte, daß man, um das siebente Prinzip der Kunst des Pirschens anzuwenden, die übrigen sechs angewendet haben müsse. Also schaute ihr Wohltäter immer hinter den Kulissen zu. Aufgrund dessen war er auch immer in der Lage, Konflikte zu vermeiden und abzuwehren.
    Wenn es Streit gab, richtete sich die Empörung niemals gegen ihn, sondern gegen seinen Vorposten, die betreffende Kriegerin.
    »Ich hoffe, du hast jetzt erkannt«, fuhr sie fort, »daß nur ein Meisterpirscher ein Meister der kontrollierten Torheit sein kann. Kontrollierte Torheit bedeutet nicht, daß man die Menschen hinters Licht führt. Es bedeutet, so erklärte es mein Wohltäter, daß der Krieger die sieben Grundprinzipien der Kunst des Pirschens anwendet - bei allem, was er tut, von den banalsten Handlungen bis hin zu Fragen auf Leben und Tod.
    Die Anwendung dieser Prinzipien führt noch zu drei weiteren Ergebnissen. Das erste ist, daß der Pirscher lernt, sich niemals ernst zu nehmen; er lernt, über sich selbst zu lachen. Wenn er nicht fürchtet, ein Narr zu sein, kann er jeden zum Narren halten. Das zweite ist, daß der Pirscher lernt, endlose Geduld zu haben. Der Pirscher ist nie in Eile; er hetzt sich nie. Und das dritte ist, daß der Pirscher eine unbegrenzte Fähigkeit zur Improvisation lernt.
    Florinda stand auf. Wir hatten wie immer in ihrem Wohnzimmer gesessen. Ich nahm unwillkürlich an, daß unser Gespräch beendet sei. Doch sie sagte, daß es noch ein Thema gebe, das ich kennenlernen müsse, bevor wir Lebewohl sagten. Sie führte mich in einen anderen Patio, der zum Haus gehörte. In diesem Teil des Hauses war ich noch nie gewesen. Sie rief leise einen Namen, und aus einem Nebenzimmer trat eine Frau hervor. Zuerst erkannte ich sie nicht.
    Die Frau rief meinen Namen, und dann erkannte ich, daß es Dona Soledad war. Sie hatte sich erstaunlich verändert. Sie war jünger und viel kraftvoller.
    Florinda sagte, daß Soledad fünf Jahre lang in einem Rekapitulationskasten gesessen und daß der Adler ihre Rekapitulation anstelle ihres Bewußtseins angenommen und sie freigesetzt habe.
    Dona Soledad bestätigte es mit einem Kopfnicken. Unvermittelt beendete Florinda unsere Zusammenkunft und sagte, es sei für mich Zeit zu gehen, weil ich keine Energie mehr hätte.
    Danach ging ich noch viele Male in Florindas Haus. Ich sah sie jedesmal, aber nur für kurze
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