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Die Königliche (German Edition)

Die Königliche (German Edition)

Titel: Die Königliche (German Edition)
Autoren: Kristin Cashore
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gut«, sagte der Mann. »Dann weg mit dir.«
    Als sie sich umwandte, um dem Befehl Folge zu leisten, hatten sie die Männer, die ihr gefolgt waren, erreicht und gingen an ihr vorbei. Die Tür ging auf, um sie einzulassen, dann wieder zu, dann ging sie wieder auf und brachte eine kleine fröhliche Gruppe junger Leute zum Vorschein. Eine Stimme drang aus dem Inneren: ein tiefes, heiseres Grollen, unverständlich, aber melodisch, die Art Stimme, mit der in Bitterblues Vorstellung ein schrumpeliger alter Baum sprechen würde. Es hörte sich an, als erzählte jemand eine Geschichte.
    Und dann sagte die Stimme ein Wort, das sie verstand: Leck.
    »Rein«, sagte sie zu dem Mann nach der verrückten Entscheidung eines Sekundenbruchteils. Er zuckte mit den Schultern, es schien ihm egal zu sein, solange sie irgendwohin ging.
    Und so folgte Bitterblue Lecks Namen in ihre erste Erzählstube.
    Es war eine Art Kneipe mit schweren Holztischen und -stühlen und einem Tresen, von unzähligen Lampen beleuchtet und bis oben hin voll mit einfach gekleideten Männern und Frauen, die standen, saßen, herumgingen und aus Bechern tranken. Bitterblues Erleichterung darüber, dass sie nichts weiter als eine Kneipe betreten hatte, war so physisch, dass es ihr eiskalt den Rücken hinunterlief.
    Die gesamte Aufmerksamkeit im Raum war auf einen Mann gerichtet, der auf dem Tresen stand und eine Geschichte erzählte. Er hatte ein schiefes Gesicht mit narbiger Haut, das jedoch geradezu schön wurde, wenn er sprach. Die Geschichte, die er erzählte, kannte Bitterblue, sie traute ihr aber nicht auf Anhieb – nicht, weil irgendetwas an der Geschichte selbst eigenartig war, sondern weil der Mann ein dunkles Auge hatte und eins, das hellblau strahlte. Was war seine Gabe? Eine schöne Erzählstimme? Oder war es eine unheimlichere Fähigkeit, die diesen Raum in Atem hielt?
    Bitterblue multiplizierte willkürlich 457 mit 228, nur um zu sehen, wie es ihr danach ging. Sie brauchte eine Weile. 104196. Und kein Gefühl von Leere oder Nebel um die Zahlen herum; kein Anzeichen dafür, dass ihr Verstand die Zahlen besser im Griff hatte als alles andere. Der Erzähler hatte nichts weiter als eine schöne Stimme.
    Das Kommen und Gehen im Eingangsbereich hatte Bitterblue bis an den Tresen geschoben. Plötzlich stand eine Frau vor ihr und fragte, was sie wollte. »Apfelmost«, sagte Bitterblue in der Annahme, dass man das hier vermutlich bestellen würde, denn wahrscheinlich wäre es nicht normal, gar nichts zu nehmen. Oh – aber das war ein Problem, denn die Frau erwartete sicherlich Bezahlung für den Apfelmost. Das letzte Mal, als Bitterblue Geld dabeigehabt hatte, war … sie konnte sich nicht daran erinnern. Eine Königin brauchte kein Bargeld.
    Ein Mann neben ihr am Tresen rülpste, während er mit ein paar Münzen kämpfte, die vor ihm ausgebreitet lagen. Es gelang ihm nicht, sie mit seinen unbeholfenen Fingern einzusammeln. Ohne nachzudenken, legte Bitterblue ihren Arm auf den Tresen, wobei sie mit ihrem Ärmel die beiden nächstgelegenen Münzen bedeckte. Dann schob sie die Finger ihrer anderen Hand unter den Ärmel und ließ die Münzen in ihre Faust gleiten. Kurz darauf steckten die Münzen in ihrer Tasche und ihre leere Hand ruhte unschuldig auf dem Tresen. Als sie sich umschaute und versuchte, entspannt zu wirken, begegnete sie dem Blick eines jungen Mannes, der sie mit einem winzigen Grinsen ansah. Er lehnte an dem Stück des Tresens, das sich im rechten Winkel zu ihrem befand, und hatte von dort aus eine perfekte Sicht auf sie, ihre Nachbarn und, wie sie vermutete, ihren Diebstahl.
    Sie wandte den Blick ab und ignorierte sein Lächeln. Als die Wirtin den Apfelmost brachte, knallte Bitterblue ihre Münzen auf den Tresen und vertraute darauf, dass es der richtige Betrag war. Die Frau nahm die Münzen und legte ein kleineres Geldstück hin. Bitterblue griff nach dem Wechselgeld und ihrem Becher, trat vom Tresen weg und ging nach hinten in eine dunklere Ecke, wo sie einen besseren Überblick hatte und es weniger Leute gab, die sie bemerken konnten.
    Jetzt musste sie nicht mehr ganz so wachsam sein und konnte der Geschichte lauschen. Es war eine, die sie schon oft gehört hatte; eine, die sie schon selbst erzählt hatte. Es war die – wahre – Geschichte, wie ihr eigener Vater als Junge an den Hof von Monsea gekommen war. Er war als Bettler mit einer Augenklappe gekommen, ohne zu sagen, von wem er abstammte oder wo er herkam. Er hatte den König und
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