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Die Koenigin der Schattenstadt

Die Koenigin der Schattenstadt

Titel: Die Koenigin der Schattenstadt
Autoren: Christoph Marzi
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Prolog
    Die große Silbermünze funkelte im gleißenden Licht der Sonne. Das junge Mädchen, das hoch oben auf dem schroffen Felsen von Gibraltar saß und hinaus auf die ruhige See blickte, betrachtete den Schatten, der gehorsam und still jeder seiner Bewegungen folgte. Die pechschwarzen Haare des Mädchens fielen ihm bis über die Schulter und in den dunklen Augen stand die Sehnsucht nach fremden Ländern, fernab des mächtigen Hauses, das sich hinter ihr über den Gassen der Stadt erhob.
    Der warme Ostwind kräuselte die klaren Wellen in der breiten Bucht, die bis hinüber nach Marokko reichte, wo es geheimnisvolle Geister in sorgsam verkorkten und seltsam geformten Flaschen geben sollte, genau wie die fliegenden Teppiche, von wunderschönen Dschinnis gewebt. Die dunkelhäutigen Händler, die bei ihrem Vater vorsprachen, wussten davon zu berichten.
    Dann stellte sich Kassandra vor, all diese fernen Orte bereisen zu können, und manchmal, in den stillen Augenblicken zwischen Wachen und Schlafen, malte sie sich aus, eine richtige Reisende zu sein.
    »Du darfst nicht träumen.« Das waren die Worte ihrer Lehrerin, der Maestra . »Du musst lernen, deine Gedanken zu lenken und die Gefühle zu beherrschen. Sei kühl wie der Tau und ebenso schön.«
    Kassandra Karfax schüttelte den Kopf und ihr Schatten tat es ihr gleich.
    Sie spürte das palastähnliche Haus ihrer Familie in ihrem Rücken, als sei es ein lebendiges Wesen, das lauerte, auf sie wartete. Es war voll von geschäftigen Menschen, zu jeder Tageszeit und Nachtstunde wurden dort redselig Geschäfte abgeschlossen, heimliche Pläne geschmiedet und zwielichtig Intrigen gesponnen. Ihr Vater, den man den Arxiduc nannte, war ein mächtiger Mann, der die Fäden der Welt in seinen Händen hielt.
    Kassandra wusste, was das für sie bedeutete.
    »Einmal wirst du das Herz dieses Hauses sein und du wirst schlagen, damit es am Leben bleibt. Du wirst über all das hier gebieten.«
    Das Mädchen strich über das Metall in ihrer Hand. Schwer lag die Silbermünze zwischen ihren Fingern. So eisighell und doch so schimmerndes Mondlicht am Tage.
    Sie seufzte. Gerade einmal dreizehn Jahre war sie alt. Sie wollte nicht das Herz des alten Hauses sein, das sich mit seinen verschlungenen Säulengängen und Türmen wie ein Palast an die Felsen über dem unendlich blauen Meer krallte, während unten eine tosende Brandung gegen die zackigen Klippen schlug, so wild und so ungestüm, dass selbst die bunten afrikanischen Gischtgeister diesen Ort mieden. Kassandra wollte das Leben fühlen. Sie wollte Abenteuer bestehen und irgendwann, das wusste sie, wollte sie von einem Prinzen geküsst werden. So, wie es in den Büchern stand, die sie heimlich las.
    Die Sonne verlor an Kraft, sie spürte es im Gesicht. Bald würde sich die orangerote Scheibe den Wassern nähern und eine sichelförmige Mondmagie würde über die Welt fluten, messerscharf wie der Silberglanz der nächtlichen Himmelsscheibe in alter Zeit.
    Alle sagten sie ihr, was sie tun sollte, allen voran die Maestra . Seit vielen Jahren schon war sie da und manche munkelten, sie sei eine Bruja, jemand, der die magischen Künste beherrschte, eine mächtige Hexe, jung und schön. Und ja – die Maestra hatte sie gelehrt, den uralten Buchstabenzauber zu gebrauchen. Aber ihre Fragen, die hatte Agata la Gataza nie beantwortet.
    Kassandra beobachtete die Affen, die überall auf dem Felsen herumsprangen. Selbst in der Stadt machten sie sich breit. Sie hockten in den krummen Ästen der Pinien und hoch oben in den Palmwedeln, kletterten an den steilen Hauswänden hinauf und sprangen auf die Balkone. Sogar auf den Gaslichtlaternen saßen sie, dicht über den flackernden Lichtern, von wo aus sie die Menschen mit spöttischem Gekeife bedachten. Sie machten Faxen und manchmal bleckten sie die Zähne.
    Kassandra mochte sie.
    Draußen in der Bucht, wo der warme Ostwind auf den kühlen Westwind traf, schwebten zwei große Galeonen im Himmel über der See. Die riesigen Segel fingen das Licht der Dämmerung ein und das Wappen der Familie, an deren Spitze das Mädchen einmal stehen würde, wehte im Wind.
    Von unten, aus den Gassen der Stadt, drang das Lachen der Kinder zum Felsen hinauf. Nie hatte sie dort spielen dürfen, das geziemte sich nicht für jemanden wie sie. Die kratzenden Zeichenstifte und sanften Pinsel waren ihre einzigen Gefährten gewesen.
    Die Silbermünze lag immer schwerer in ihrer Hand.
    »Ja, ich werde es tun, heute!«, flüsterte sie
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