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Die Koenigin der Schattenstadt

Die Koenigin der Schattenstadt

Titel: Die Koenigin der Schattenstadt
Autoren: Christoph Marzi
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einzelne Lebewesen, das die Schatten berührten, wurde ihnen binnen Augenblicken untertan. Die Gischtgeister und Libellenwürmer fielen gierig über die Menschen her und trugen die Dunkelheit von einem Körper zum anderen.
    Hilflos standen Catalina, Márquez und El Cuento an dem Ort, der nicht lange Schutz bieten würde, und keiner von ihnen konnte die Blicke lösen von dem, was die Finsternis anrichtete.
    »Der Largo de Chafariz befindet sich dort unten«, sagte Márquez und deutete ins Zentrum der Alfama. »Die Flüsterer an Bord der Schiffe werden sich nicht lange aufhalten.«
    »Ein Grund mehr, sich zu beeilen«, fauchte El Cuento.
    Catalina erkannte jetzt auch, was das große Beben kurz zuvor ausgelöst hatte. Eine Wolke aus pechschwarzer Nacht war zwischen Estrela und die Alfama gestürzt. Das Gebilde lag schwerfällig wie ein gestrandeter Wal aus Nacht und Nichts zwischen den teilweise zerstörten Häusern und die langen Tentakel aus Dämmerung und Schatten, die ihm aus dem Bauch herauswuchsen, schlängelten sich hektisch zuckend durch die Straßen und packten, wessen sie habhaft werden konnten. Sogar Pflanzen verstrickten sich in den Finsterfäden und wurden zu Auswüchsen des Wolkengebildes, das sich, so wie es aussah, nicht mehr aus eigener Kraft in den Himmel erheben konnte und stattdessen sein Werk von der Erde aus verrichtete.
    El Cuento wehte dem Mädchen um die Füße und zerrte ihm an der Hose.
    »Beeilen wir uns«, stimmte Catalina ihm zu.
    So machten sie sich an den Abstieg.
    Durch verwinkelte Gassen führte sie der Weg. Pflanzen und Gestrüppe, die dort seit Jahrhunderten an den Häusern emporrankten, hatten sich darangemacht, ihre Heimat zu verlassen. Wilde Hecken schlugen nach jedem, der sich ihnen näherte. Sie witterten die Schatten, von allen Seiten. Raschelndes Blätterwerk bewegte sich wie grüne Teppiche an den Hauswänden entlang, suchte nach dem Licht, das immer weiter schwand. Diejenigen Blüten, die Zähne hatten, schnappten wütend nach den Schattententakeln, wenn sie ihnen nah genug kamen, doch wenn eine Schlingpflanze mit der Kälte der Nacht in Berührung kam, da wurde sie zu einem verlängerten Arm der Finsterfäden.
    Catalina wusste es: Lisboa ging unter. Sie sah es mit eigenen Augen. Und irgendwo in dieser Finsternis, im Gewimmel der Gassen, war Jordi Marí, den Catalina einfach auf den flüsternden Märkten hatte stehen lassen. Sie hatte die einzige Gelegenheit, ihn wiederzutreffen, verstreichen lassen, nur aus Eifersucht und falschem Stolz.
    Sie spürte, wie Wut sie packte, Zorn auf sich selbst, auf die Schatten, auf ihr ganzes gottverfluchtes Schicksal.
    Es durfte nicht so enden wie in der singenden Stadt! Das würde sie einfach nicht zulassen!
    »El Cuento?«
    Der Wind wehte ihr durchs Haar, als sie stehen blieb. »Was willst du mir sagen?«
    »Finde Jordi, bitte.«
    Er prustete überrascht. »Ich lass dich nur ungern zurück.«
    »Márquez wird auf mich aufpassen. Und bald schon treffen wir Nuria Niebla. Mir wird nichts geschehen. Finde Jordi und bleib bei ihm. Versprich es mir.«
    »Jetzt steckst du selbst mitten in einer dieser Geschichten, die du immer von mir hören wolltest«, stellte El Cuento nachdenklich fest. Und zauberte damit ein kurzes Lächeln in das gebräunte Gesicht des Mädchens.
    Sie sahen einander an.
    »Du liebst ihn wirklich, oder?« Sanft strich er ihr über ihre zerzausten Zöpfe.
    Sie schwieg einen Moment lang. Noch gestern hätte sie das nicht zugeben können, hätte alles trotzig abgestritten.
    Doch jetzt nickte sie leise.
    »Finde ihn«, bat sie den Wind. »Und sag ihm das, was ich dir gesagt habe.«
    El Cuento blies ihr warm um die Füße, die in ausgetretenen Sandalen steckten, und gab ihr das Versprechen, das sie hören wollte. »Pass auf dich auf«, wisperte er zum Abschied, hauchte ihr Glück auf die Wange und dann war er auch schon fort.
    Catalina schluckte, sah dorthin, wo der Sand sich am Boden kräuselte, und setzte sich erneut in Bewegung. Márquez, der die ganze Zeit über stillgeschwiegen hatte, schwebte schattenhaft vor ihr her.
    Diesmal verharrten sie nicht, bis sie den Berg hinter sich gelassen hatten und mitten in das Gewirr aus engen Gassen eingetaucht waren. Der alte Márquez führte Catalina durch dieses Labyrinth, so sicher, als kenne er sich hier aus, so schnell auf andere Straßen und Hinterhöfe und Gassen ausweichend, als schien er zu wittern, wenn Gefahr sich näherte.
    So umgingen sie die Finsterfäden und anderes Getier
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