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Die Koenigin der Schattenstadt

Die Koenigin der Schattenstadt

Titel: Die Koenigin der Schattenstadt
Autoren: Christoph Marzi
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verhüllen.
    Kassandra sah an sich herab.
    Ihr Schatten folgte nicht länger den Bewegungen ihres Körpers.
    »Du bist wirklich wie ich«, flüsterte sie.
    Und dann erfüllte mit einem Mal ein lautes Getöse die Luft. Kassandra wusste nicht, wo es herkam. Wild wirbelnde Rabenfedern schälten sich aus der Dämmerung und aus ihrer Mitte trat schnellen Schrittes die Maestra auf das Mädchen zu.
    »Du wagst es, den Mond und die Sonne zu beleidigen?«, fauchte Agata la Gataza.
    Kassandra kauerte am Boden, zu kraftlos, um sich ihrer Lehrerin zu widersetzen.
    Der neugeborene Schatten indes zischte wütend wie eine verlöschende Kerze und dann sah Kassandra, zu was er wirklich fähig war.
    Agata de la Gataza schrie auf, als das Schattenmädchen sich ihr entgegenwarf. Die Luft begann vor Kälte zu brennen und Kassandra hielt sich weinend die Hände vors Gesicht. Sie spürte, wie etwas in ihr zerbrach. Und sie ahnte, dass die Welt von nun an nie mehr so sein würde wie jemals zuvor.

Nicht hier, nicht jetzt
    Noch immer glänzte der Staub des Sternenschauers in Catalinas Blick, während sie neben dem alten Schatten herlief. Die Sehnsucht nach dem Lichterjungen brannte in ihrem Herzen und trieb ihr die Tränen in die Augen. Zu kurz nur war ihre Begegnung im dichten Getümmel der flüsternden Märkte gewesen, zu groß das Missverständnis, das sie erneut entzweit hatte. Nach allem, was passiert war, hatten sie einander in der fremden Stadt namens Lisboa wiedergefunden und im gleichen Augenblick auch schon wieder verloren.
    Catalina wusste, wie schnell manche Gelegenheiten an einem vorübergehen können, aber sie wusste nicht im Geringsten, was man dagegen tun konnte. Das Lächeln, das für einen kurzen Moment über ihr schmutziges Gesicht gehuscht war und an die glücklichen Tage von Montjuic erinnert hatte, war schnell wieder von der Wirklichkeit ausgelöscht worden.
    Jetzt rannte Catalina durch die engen Gassen hoch oben in der Alfama und war ganz außer Atem. Sie folgte dem lebendigen Schatten des alten Kartenmachers Arcadio Márquez, der ihr während der vergangenen beiden Jahre ein Vater gewesen war.
    Erst vor wenigen Stunden war sie in diese fremde Stadt gekommen und hatte sich so vieles davon erhofft. Die Stadt am Ende der Welt, so nannte man sie. Doch was auch immer sie sich ersehnt hatte, nichts von alldem war eingetreten.
    Sie hatte Wunder gesehen und sie zerstört.
    Das war der Gedanke, der sich in ihrem Kopf festgesetzt hatte, drängend und bohrend, und der sie mit Entsetzen erfüllte.
    Catalina war in Malfuria hierhergekommen, dem uralten Sturm aus Rabenfedern, dem einzigen Ort, der die Macht besessen hatte, dem Übel, das die Schatten über die Welt brachten, Einhalt zu gebieten.
    Und was hatte sie getan? Sie hatte Malfuria zerstört.
    Sie war die Mephistia, die Verräterin, die das Herz der Hexenheit ausgelöscht hatte. Catalina Soleado hatte der Welt die Hoffnung geraubt und jetzt war sie, wie alle anderen auch, auf der Flucht. Denn die Dunkelheit war nach Lisboa gekommen und nichts würde sie mehr aufhalten können.
    Menschen liefen aufgeschreckt und verwirrt durch die Straßen, ohne Hoffnung, ohne Ziel, nur die Furcht begleitete alle gleichsam.
    Und Catalina?
    Ausgerechnet einem Schatten hatte sie sich anvertraut, dem Schatten des alten Kartenmachers. Er hatte ihr versprochen, sie zu der Einzigen zu bringen, die jetzt vielleicht noch helfen konnte.
    Catalina hoffte inständig, dass sie das Richtige tat. Konnte sie einem Schatten wirklich trauen? Durfte sie Márquez folgen?
    Sie hatte keine andere Wahl. Dabei war sie des Fliehens so müde. Sie wollte sich ausruhen, die Augen schließen und gar nichts mehr tun. Sie wollte vergessen, schlafen, träumen. Doch die Ereignisse ließen sie nicht zur Ruhe kommen, nicht hier, nicht jetzt.
    Dichte Wolkengebilde aus geflochtener Nacht schwebten über Lisboa und dem Tejo und alle reckten sie ihre Tentakel nach den Häusern, Menschen und Pflanzen. Die Fäden der Meduza, so hatten sie die Menschen in alter Zeit genannt. Sie hatten eine dunkle Armada mit sich gebracht, eine hohe Wand aus gewaltigen fliegenden Galeonen, die Lisboa von allen Seiten her einschloss und niemandem die Flucht erlaubte.
    »Catalina!« Wenn der Schatten des alten Márquez sie anschaute, dann hatte sie beinahe das Gefühl, durch ihn hindurchsehen zu können. Er schwamm vor ihr durch die Nacht wie dunkle flüssige Luft, führte sie eilig durch das Labyrinth aus engen Gassen, vorbei an alten Kirchen, auf
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