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Die Knochenfrau

Die Knochenfrau

Titel: Die Knochenfrau
Autoren: Oliver Susami
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Schrank, stellte sich an die Seite des alten Möbels und schob das Ding ein Stück von der Wand weg. Der Holzschrank war schwer, schwerer als erwartet, außerdem rutschten die Füße nicht richtig auf dem unebenen Steinboden. Lukas war kurz davor, das Ding einfach umzuwerfen, schob dann aber weiter, setzte all seine verbliebene Kraft ein und schaffte es, den hölzernen Kasten Zentimeter für Zentimeter zu bewegen.
    Als er sie sah, da flutete Adrenalin seine Blutbahnen. Eine Mischung aus Wut, Angst und Freude stieg ihm zu Kopf, spannte seine Muskeln und schärfte seine Sinne. Da war tatsächlich eine Tür, eine schmale, niedrige Tür … gerade groß genug, dass ein Mensch (oder irgendetwas anderes, irgendein kindermordendes Drecksvieh) hindurch schlüpfen konnte.
    Lukas schob weiter, legte die Tür frei und trat dann einen Schritt zurück. Er war sich sicher, dass sie hinter diesem Stück Holz war und dass sie Angst vor ihm hatte. Gegen einen erwachsenen Mann kommt sie nicht an. Sie konnte nicht einmal meinen Bruder überwältigen. Sie ist nicht so stark. Dieses Vieh ist vor mir geflüchtet, es ist verdammt nochmal vor mir weggerannt.
    Lukas bückte sich, hielt mit der Rechten seinen Spaten umklammert und zog mit der Linken an der Tür. Etwas hielt dagegen, etwas war auf der anderen Seite und versuchte, die Tür zuzuhalten. Aber Lukas war stärker, er war ganz eindeutig stärker. Mit einem Grinsen im blutverschmierten Gesicht zog er die Tür auf, Zentimeter für Zentimeter, den Spaten zum Zustoßen bereit. Gerade als er die Tür öffnen wollte, da hörte er ein Geräusch hinter sich. Er drehte den Kopf und da stand Frau Schneider, genau wie vor wenigen Stunden, die Augen weit aufgerissen und den Kopf auf die Schulter geknickt. Lukas lachte hart auf und brüllte in die Dunkelheit hinter der Tür.
    „FÄLLT DIR NICHT MEHR EIN, DU BLÖDES STÜCK SCHEISSE? DAS HATTEN WIR DOCH SCHON!” Lukas drehte seinen Kopf und das Trugbild war verschwunden. Stattdessen stand dort, wo gerade noch Frau Schneider gewesen war, nun der große Ameisenbär, das Vieh, das er als Kind gesehen hatte. Einen kurzen Moment zögerte Lukas, etwa eine halbe Sekunde lang war er beeindruckt, dann zog er den Spalt weiter auf und brüllte in die Dunkelheit: „SCHON BESSER, DRECKSTÜCK! ABER DU VERWECHSELST MICH MIT MEINEM KLEINEN BRUDER! Lukas riss mit einem Ruck die Tür auf und hörte ein scharrendes Geräusch. Etwas verschwand in der Dunkelheit.
    „HALLI-HALLO!”, rief Lukas. „ZEIT ZU VERRECKEN!” Er wunderte sich selbst über das tiefe Glück, das er empfand. Gab es einen Namen dafür? Vielleicht „Jagdfieber”? Oder gleich „Mordlust”?
     Als er gerade mit der Taschenlampe in die Dunkelheit leuchten wollte, da hörte er ein Quietschen hinter sich. Ein letzter verzweifelter Trick! Er drehte sich nicht um, war nicht neugierig darauf, was sie jetzt versuchte. Er schaltete die Taschenlampe an, leuchtete in den Raum hinter der Tür und sah ein Feld weißer Knochen. Und dann spürte Lukas einen harten Schlag auf den Schädel. Er sagte noch etwas, das wie „Uff” klang, bevor sich das graue Gestöber vor seinen Augen im Bruchteil einer Sekunde zu einer schwarzen Wand zusammenzog. Vor dieser Wand glühte ein winziger Punkt. Er war abwechselnd hellrot und strahlend weiß. Dann verschwand auch der Punkt.
     
    *
     
    Was wog der Typ? Neunzig Kilo? Er hatte noch versucht, aufzustehen, war dann aber mit dem Oberkörper gegen die Wand gesackt und auf die Knie gegangen. Sie hatte schon gedacht, sie müsse noch einmal zuschlagen. Aber dann fiel er auf die Seite und rührte sich nicht mehr. Er hatte einen wirklich idiotischen Gesichtsausdruck, wie er so dalag und ihm das Blut über die Stirn lief.
    Yvonne drehte Lukas auf den Rücken – es war umständlich, sie musste seine Beine entwirren, die irgendwie über Kreuz lagen – packte ihn an den Armen und zog ihn von dem Loch in der Wand weg. Verdammte Scheiße! Was für ein Brocken! Wahrscheinlich sogar mehr als neunzig Kilo! Zum Glück hatte er den Schrank nicht gründlich untersucht, in dem sie sich versteckt hatte. Er hatte nur ein bisschen zwischen die alten Kleider gefasst.
    Yvonne schaffte es, den schlaffen, blutenden Körper bis zu einem senkrecht stehenden Heizungsrohr zu ziehen. Jetzt musste sie seinen Kopf in die richtige Position bringen und das war gar nicht so leicht. Dieser große, schmutzige Schädel wollte einfach nicht an dem Heizungsrohr stehen bleiben, kippte dauernd zur Seite.
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