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Die Knochenfrau

Die Knochenfrau

Titel: Die Knochenfrau
Autoren: Oliver Susami
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durfte ja nicht mehr, wegen der vielen Medikamente. Der Arzt hatte es verboten. Nur ab und zu, da gab er ihr doch einen Schluck. Einen ganz kleinen nur, nur für den Geschmack. Und nur, um nicht alles so zu machen, wie es die Krankheit vorschrieb. Der wenige Kaffee, den er seiner Frau ab und zu in die Schnabeltasse füllte, war ein Akt des Widerstandes, ein Aufschrei gegen das miese Schicksal.
    Der alte Mann stellte die Tasse ab und massierte seine schmerzenden Knie. Er fühlte sich müde, ein wenig krank. Nur kurz ausruhen, nur kurz die Beine strecken und die Ruhe genießen. Heute war einer seiner schwachen Tage, einer der Tage, an denen er es gerade so schaffte. Fast musste er weinen. Er nahm die Kaffeetasse in beide Hände und die Wärme tat ihm gut. Er musste stark sein, sich um seine Frau kümmern. Und um das Andere.
    Als er gerade die Hände auf den Tisch stützte und aufstehen wollte, da hörte er das Bellen. Heute also das Bellen. Er kannte es gut, in den letzten Monaten hatte er es häufig gehört. Ein Hund … sein Hund. Sein Hund Lutz, der seit über zehn Jahren tot war. Der alte Mann ignorierte das Geräusch, stand auf und ging hinüber zu seiner Frau. Er streichelte ihre Stirn und wischte ihr eingetrockneten Speichel aus dem Mundwinkel. Jetzt kratzte es an der Haustür. Genau wie Lutz damals. Er hatte immer hinein gewollt, er konnte nicht allein sein, der gute, dumme Hund. Aber natürlich war es nicht Lutz. Das alles war nichts als eine böse Illusion, eine dreckige Gemeinheit. Und trotzdem hatte der alte Mann das Bedürfnis, zur Tür zu gehen, sie zu öffnen und nachzusehen. Er atmete mehrmals tief durch und hielt sich am Bett seiner gelähmten Frau. Da draußen war nichts, der Hund war seit Jahren tot. Er verweste in der Erde. Da waren nur die Geräusche.
    Etwa eine halbe Stunde saß der alte Mann am Bett seiner Frau, streichelte ihre kühle Stirn und erzählte von früher. Das Bellen und Kratzen hatte aufgehört. Es ging nie lange … zumindest das. Er schaute auf die Uhr über dem Fernseher und es war Zeit fürs Abendessen. Also wieder in die Küche … immer die gleichen Wege. Er nahm einen Beutel mit Fertignahrung aus dem Karton unter der Spüle, schüttelte ihn, pulte dann einen frischen Infusionsschlauch aus der widerspenstigen Plastikverpackung und ging mit dem ganzen Kram, den er so verabscheute, hinüber zu seiner Frau. Dass der Beutel mit der Flüssignahrung bunt gestreift war, das machte es nicht besser. Das Zeug war kalt, schleimig und roch nach Haferflocken.
    Der alte Mann legte alles auf den Nachttisch, drückte einen Knopf auf einer beigefarbenen, wasserdichten Fernbedienung und richtete so das Kopfteil des Bettes auf, brachte seine Frau in eine halb sitzende Position. Er schob ihr das Nachthemd hoch und legte den durchsichtigen Schlauch frei, der aus ihrem Körper ragte. Er führte direkt in ihren Magen. Der Mann klemmte den Schlauch ab und öffnete den Verschluss. Dann schloss er die Flüssignahrung an und entfernte die Klemme. Er achtete darauf, dass die graugelbe Masse nicht zu schnell in ihren Körper hinein floss. Manchmal kam es ihr wieder hoch und das war gefährlich, es konnte Nahrung in die Luftröhre gelangen, sie konnte eine Lungenentzündung bekommen. Zwei hatte sie schon überlebt, eine davon nur knapp.
    Also ganz langsam, Tropfen für Tropfen. Die beiden hatten Zeit. Viel Zeit.
    Der alte Mann setzte sich wieder auf den Stuhl neben ihrem Bett und sah zu, wie das nahrhafte Zeug in sie hinein floss. Es sollte so aussehen, als kontrolliere er den korrekten Ablauf des Ganzen. Aber dazu hätten auch zehn Sekunden gereicht. Er wollte sie einfach nicht ansehen, nicht mit ihr sprechen. Er wollte nicht, dass sie seine Traurigkeit bemerkte. Plötzlich kam ihm sein Starren auf den Infusionsschlauch lächerlich vor und er sah ihr doch in die Augen. Mit der Rechten streichelte er ihre Wange. Und dann kamen ihm die Tränen. Er fühlte sich elend, er fühlte sich krank und schwach. Er wusste nicht, wie lange er das hier noch durchhalten würde. Die alte Frau verzog ein wenig das Gesicht und er wusste, dass es ein Lächeln war, dass sie ihn aufmuntern wollte. Er strich ihr das dünne Haar aus der Stirn und versuchte, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bekommen.
    „Ach Wilma, heute geht es mir nicht gut“, sagte er. „Aber das wird schon wieder, mach dir keine Sorgen.”
    Sie sah ihm in die Augen und öffnete leicht den Mund, als ob sie etwas sagen wollte. Aber natürlich kam nichts.
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