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Die Knochenfrau

Die Knochenfrau

Titel: Die Knochenfrau
Autoren: Oliver Susami
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Es kam nie etwas.
    „Irgendwann sind wir an einem besseren Ort, Wilma. Irgendwann gehen wir wieder spazieren. Und irgendwann tanzen wir wieder zusammen. Vielleicht lerne ich es ja doch noch.”
    Jetzt kamen ihr die Tränen. Der alte Mann nahm ein Taschentuch und wischte sie ihr weg. Er war froh, dass er etwas tun konnte. Dann beugte er sich über sie, gab ihr einen Kuss auf die Wange und flüsterte ihr ins Ohr, dass sie immer noch schön sei. Es war eine Lüge, das wusste sie. Aber es war eine Lüge, die ihr gut tat. Und vielleicht fand er sie ja wirklich noch schön … zumindest ein bisschen.
    Einige Minuten blieb der alte Mann ganz dicht bei ihr, dann richtete er sich auf, öffnete eine Schublade ihres Nachttisches, nahm zwei Plastikpackungen aus der Schublade und riss sie auf. Er ließ das Plastik in den kleinen Mülleimer fallen, der neben dem Bett stand. Eine Bewegung, die er schon oft gemacht hatte. Alles eingespielt, praktisch, erprobt.
    Der Mann verband die Einwegkanüle mit dem großen Kunststoffreservoir. Er achtete darauf, dass der Kolben ganz vorne war. Dann schaute er seine Frau an und sagte: „Ich fang jetzt an”.
    Sie blinzelte einmal, verzog das Gesicht und in ihrem rechten Mundwinkel blubberte Speichel. Der alte Mann legte seine rechte Hand um ihren faltigen Oberarm und klopfte mit der Linken dorthin, wo er hoffte, eine Vene zu finden. Als er meinte, eine zu sehen, da desinfizierte er die Stelle und stach ihr die Hohlnadel durch die Haut. Er traf perfekt und er hasste es. Schon als Kind konnte er kein Blut sehen. Im Biologieunterricht, da hatte er sich einmal in die Hose gemacht, als der Lehrer mit geronnenem, metallisch stinkendem Schweineblut hantierte. Er war umgekippt und hatte sich eingepinkelt. Alle hatten den Fleck gesehen. Noch jetzt stieg ihm die Wut ins Gesicht, wenn er daran dachte. Wut auf sich selbst und Wut auf diesen alten Nazi, der Biologie unterrichten durfte und der ihn so voller Verachtung angeschaut hatte. Wieso erinnerte man sich ausgerechnet an die Demütigungen? Wenn er an seine Schulzeit dachte, dann fielen ihm nur die Demütigungen ein.
    Der alte Mann zapfte 100 Milliliter Blut ab. Er zog am Kolben und die dunkelrote Flüssigkeit strömte in das Reservoir. Er ließ die Kanüle stecken, drückte das Blut in eine schmutzige Tonschale und zapfte noch einmal 100 Milliliter. Das tat er, bis er einen halben Liter hatte. Dann zog er die Nadel aus dem Arm seiner Frau und versorgte die Einstichstelle. Alles schon gemacht, alles nur Sache der Übung. Auch an Blut und Wunden konnte man sich gewöhnen.
    Als er die Schale mit dem Blut seiner Frau in die Küche trug – sie war so voll, dass er beim Tragen aufpassen musste, er konnte nur langsam gehen – da hörte er das Lachen der Kinder. Von draußen, aus der Dunkelheit. Er begann zu zittern und stellte die Schale ab. Wieso die Kinder? Normalerweise war es nur der Hund oder die Kinder. Warum beides an einem Abend? Er stand reglos, hielt die Luft an, lauschte angestrengt. Da! Wieder das Lachen! Sein Nacken verkrampfte sich und der alte Mann ballte die mageren Fäuste. Nun gut, dann eben beides heute Abend. Er würde sich nicht verkriechen, er würde tun, was zu tun war. Egal, was passierte. Es war alles nur Einbildung, nur ein Trick, nur der übliche Terror! Er ging zurück zu seiner Frau, setzte sich an ihr Bett und fragte sie, ob auch sie etwas gehört habe. Sie blinzelte einmal.
    „Heute Abend ist es besonders schlimm”, sagte er. „Ich mach mal den Fernseher an ... dann hören wir das nicht so.”
    Der alte Mann brachte seine Frau in eine liegende Position und drehte sie auf die Seite, so konnte sie den Fernseher sehen. Zusammen schauten sie einen Krimi, dessen Handlung der alte Mann nicht verstand. Zu sehr war er in Gedanken. Als er den Fernseher ausmachte, da war es ganz still. Kein Lachen mehr. Nur das Rauschen des Windes und im nahen Wald brach krachend ein Ast. Wieder waren fast zwei Stunden vergangen. Jetzt würde er sie ausziehen, sie waschen und abtrocknen, ihr den Rücken eincremen und sie dann zudecken. Den Beutel mit der Flüssignahrung hatte er ihr schon während des Films abgenommen. Wenn das alles erledigt war, würde er sich um die Schale mit dem Blut kümmern.
    „Willst du noch was trinken, Wilma?”
    Sie blinzelte einmal und so gab er ihr kalten Tee aus einer Schnabeltasse. Sie sog gierig daran, war dankbar für alles, was ihre Geschmacksknospen streifte und nicht den direkten Weg in ihren Magen nahm. Auch
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