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Die Kastratin

Die Kastratin

Titel: Die Kastratin
Autoren: Iny Lorentz
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gerade freundschaftlichen Beziehungen zwischen dem Kirchenstaat und der Dogenstadt konnte ein Zwischenfall wie dieser zu bewaffneten Auseinandersetzungen führen.
    Vincenzos Zweifel und Ängste wuchsen, je weiter der Tag fortschritt, und als die Räuber kurz vor Einbruch der Nacht ihre Höhle erreichten, die gut versteckt in den Bergen lag, war er einem Zusammenbruch nahe. Die Räuber sperrten ihn in eine halb zerfallen und windschief aussehende, in Wirklichkeit äußerst robust gebaute Hütte. Das Mobiliar war unter den Umständen sogar üppig zu nennen, denn es bestand aus einem Strohsack, zwei Hockern und einem roh gezimmerten Tisch.
    Kurze Zeit später kam Tomasi herein und legte Vincenzo ein in Leder gehülltes Bündel hin. Als er es öffnete, fielen ihm etliche Bogen Papier entgegen, wie sie von den Bankiers für ihre Korrespondenz benützt wurden. Sogar die Stempel und Wasserzeichen waren echt.
    Tomasi lachte über Vincenzos verblüfften Gesichtsausdruck. »Wir benutzen diese Blätter, wenn unsere unfreiwilligen Gäste uns das Lösegeld auszahlen lassen wollen.« Er wartete, bis er sicher war, dass kein anderer Räuber ihn hören konnte, und beugte sich über Vincenzo. »Ich will das Geld nicht in bar. Du wirst es mir auf eine Bank in Genua anweisen, die ich dir nennen werde. Hast du verstanden?«
    Vincenzo nickte, obwohl er nicht begriff, worauf der Räuber hinauswollte. Er befolgte jedoch dessen Befehl und betete innerlich zur Jungfrau Maria und allen Heiligen, dass das Losungswort, mit dem er sich bei dem Bankier ausweisen konnte, immer noch galt.
    Tomasi nahm das fertige Schreiben entgegen, las es durch und rollte es mit einem zufriedenen Nicken zusammen. Dann hieß er Vincenzo, die Hülle, die er ihm reichte, mit der Adresse des Bankiers zu versehen und das Ganze zu versiegeln, und rief Benedetto herein.
    Der klein gewachsene Räuber hatte sich auffallend verändert. Eine üppige, aber sehr echt wirkende Perücke saß auf seinem kahlen Schädel, und seine graue Kleidung ließ jede modische Neuerung der letzten Jahre vermissen. Wie er jetzt aussah, würde ihn jeder für einen älteren, zwischen Pergament und Tinte vertrockneten Kommis einer Bank oder eines Handelshauses halten. Anscheinend hatte der Mann sich schon öfter als Bote ausgegeben, denn er hatte auch die devote, aber wichtigtuerische Haltung eines Angestellten angenommen.
    Tomasi reichte ihm das Schreiben und verabschiedete ihn mit einem aufmunternden Klaps. »Genua«, sagte er nur, doch Benedetto schien zu verstehen, denn er ging wortlos zu seinem Pferd und verließ das Räuberlager trotz der sinkenden Nacht.
    Für Vincenzo begann die schlimmste Zeit seines Lebens. Von Zweifeln zerfressen wälzte er sich auf dem Strohsack hin und her und fand nur für wenige Augenblicke Schlaf, in denen er von schrecklichen Albträumen heimgesucht wurde. In der ersten Dämmerung stand er zerschlagen und gereizt auf und wanderte in der Hütte auf und ab. Durch das winzige Luftloch konnte er beobachten, dass die Räuber ihre in der Höhle versteckte Beute herausholten und vor der Hütte aufstapelten. Ihn schienen sie beinahe vergessen zu haben, denn sie brachten ihm erst sehr spät etwas zu essen und zu trinken. Als er wieder allein war, quälten ihn erneut düstere Gedanken. In seiner Phantasie sah er Giulio bereits nach Rom gebracht, während die Räuber noch auf Benedetto warteten. Dann hätte er seinen Freund der Möglichkeit beraubt, mit seinem Geld ein paar Vergünstigungen bei den Kerkermeistern zu erlangen. Nach allem, was man hörte, hatten sogar die Folterknechte eine offene Hand und minderten für Geld die Qualen ihrer Opfer.
    Schließlich hielt Vincenzo es nicht mehr aus und hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Tür. Als Tomasi den Kopf in die Hütte steckte, hätte er ihn am liebsten gepackt und geschüttelt. »Wieso dauert das so lange? Was ist, wenn die Soldaten mit Giulio Casamonte bereits die Straße passiert haben, bevor ihr etwas unternehmt?«
    »Sie haben die Straße noch nicht passiert«, antwortete der Hauptmann gelassen, schloss die Tür und legte den Riegel wieder vor. Stunden vergingen, in denen Vincenzo fast verzweifelte. Schließlich kam Benedetto zurück und schwenkte einen großen Umschlag, noch ehe er vom Pferd stieg.
    Vincenzo konnte seine Stimme bis in die Hütte vernehmen. »Es ist alles gut gegangen. Die Bank hat die Anweisung anstandslos ausgeführt. Es war aber knapp, denn die Einlage war nur dreißig Dukaten höher als die
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