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Die Kastratin

Die Kastratin

Titel: Die Kastratin
Autoren: Iny Lorentz
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waren sich einig, dass ein Mädchen, das heilige Lieder sang, gegen Gottes Gebot verstieß. Lodrina hatte Giulia schon vor aller Leute Ohren als Hexe beschimpft und behauptet, eines Tages würde sie wegen ihres Gesangs auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden und auf ewig im Feuer der Hölle schmoren. Seitdem träumte Giulia nachts von Flammen, die sie verzehrten, und wachte oft weinend auf.
    Sie schüttelte sich, um die Bilder aus ihren Albträumen zu verscheuchen, die auch jetzt wieder in ihr aufstiegen, zwängte sich durch die kleine Pforte in der Stadtmauer und eilte zu dem Anger, den die Frauen der kleinen Stadt zum Bleichen der Wäsche nutzten. Zu ihrem Pech waren die besten Stellen bereits belegt, und sie musste bis zum Fuß des Burgbergs hochsteigen, um genügend freien Platz zu finden.
    Die Burg und das Kloster waren die beiden Pole, zwischen denen sich das Leben in Saletto abspielte. Oben in der Burg, die längst keine Befestigung mehr war, sondern ein prunkvoller Palast, residierte Graf Gisiberto Corrabialli als weltlicher Herr der Stadt und ihrer Bewohner. Über die Seelen der Menschen aber wachten die Mönche des Klosters im Auftrag des Abtes Francesco della Rocca.
    Während Giulia mit einer flinken Bewegung das erste Laken aufschlug und ausbreitete, versuchte sie, sich die Gesichter der beiden Männer vorzustellen, mit denen ihr Leben so eng verflochten war. Sie konnte sich nicht so recht an sie erinnern. Das mochte daran liegen, dass die beiden Herren höchstens ein- oder zweimal im Jahr nach Saletto kamen. Die meiste Zeit weilten sie in Rom, wo sie ehrenvolle Aufgaben am Hofe des Heiligen Vaters zu erfüllen hatten. Giulias Vater Girolamo Fassi, der Graf Gisiberto als Kapellmeister und Hofkomponist diente, sah seinen Herrn auch nicht häufiger als die anderen. Zu seinem Kummer musste er in Saletto bleiben und war als Pater Lorenzos Korepetitor für die Gesangsausbildung des klösterlichen Knabenchors mitverantwortlich.
    Die ersten Lieder hatte Giulia von ihrem Vater gelernt, kaum dass sie laufen konnte, und schon mit fünf Jahren hatten ihr die einfachen Kinder- und Volksweisen nicht mehr gereicht. So hatte sie begonnen, die weitaus komplizierteren Gesänge der Chorknaben nachzuahmen. Zunächst hatten die Erwachsenen sich darüber amüsiert und sie sogar noch angefeuert. Bald aber verbot die Mutter ihr jeglichen Gesang und zankte sich mit dem Vater, wenn dieser ihr erlaubte, weltliche Lieder vorzutragen.
    Giulia brachte es nicht fertig, der Mutter zu gehorchen. Es war, als ersticke sie, wenn sie nicht singen konnte. Vorsichtig sah sie sich um und stellte erfreut fest, dass sie allein war. Jetzt konnte sie den Tönen, die sich in ihrer Kehle ballten, freien Lauf lassen. Der Solopart der neuen Messe war einfach wundervoll. Sie hatte die Strophen erst einmal gehört, als Ludovico, der vielgerühmte Solosänger des Knabenchors, sie Pater Lorenzo vortrug, war sich jedoch sicher, dass sie sie mindestens ebenso gut singen konnte wie dieser grobe Lümmel.
    Selbstvergessen ließ Giulia Strophe für Strophe aus ihrer Kehle aufsteigen. Es war, als bildeten die Töne eine Leiter zum Himmel, auf der sie mit der Leichtigkeit eines Engels hinaufsteigen konnte. Sie war so vertieft, dass sie den Jungen gar nicht wahrnahm, der mit einem Chorhemd der Sängerknaben bekleidet vom Kloster herabstieg und eben zur Mühle abbiegen wollte. Als er Giulias Stimme vernahm, blieb er stehen, zog die Stirn kraus und ballte die Fäuste. Dann huschte ein verschlagener Ausdruck über sein pausbäckiges Gesicht. Leise schlich er zum Bach, holte eine Hand voll Schlamm heraus und schleuderte ihn Giulia ins Gesicht.
    Sie brach mitten in einem Triller ab, spie den Dreck aus und hörte den Jungen hämisch lachen. »Ludovico, das wirst du bereuen!« Sie bückte sich nach einem Stein.
    Der Junge warf eine zweite Hand voll nach ihr. Giulia wich aus und schrie entsetzt auf, denn der Schmutzbatzen war auf dem besten Laken ihrer Mutter gelandet. Für einen Moment schwankte sie zwischen dem Wunsch, es dem Knaben heimzuzahlen, und der Pflicht, den Dreck auszuwaschen, bevor er eintrocknen konnte. Sie dachte an die Schläge, die sie bekommen würde, wenn sie mit dem schmutzigen Laken heimkam, raffte das Tuch an sich und eilte zum Bach hinab, ohne Ludovico eines weiteren Blickes zu würdigen.
    Der Junge kam ihr nach und sah hämisch grinsend zu, wie sie sich abmühte. »Du hast eine Stimme wie ein Reibeisen, Giulia. Kein Wunder, dass Frauen keine
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