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Die Karte Des Himmels

Die Karte Des Himmels

Titel: Die Karte Des Himmels
Autoren: Rachel Hore
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Weise.«
    Judes Großmutter schien in weite Ferne zu blicken, so als ob irgendetwas außerhalb der Mauern des Zimmers ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.
    »Gran?«
    »Bitte entschuldige, meine Liebe. Ich war mit den Gedanken woanders.«
    »In der Vergangenheit?«
    »Ja. Weit, weit in der Vergangenheit. Als ich noch klein war. Wahrscheinlich kannst du dir gar nicht vorstellen, dass deine alte Gran auch mal klein war, wenn du sie so anschaust, stimmt’s?«
    Jude beobachtete, wie ein verschmitztes Lächeln das faltige Gesicht ihrer Großmutter verwandelte. »Doch, natürlich«, sagte sie liebevoll.
    Gran sah glücklich aus.
    »War es traurig oder schön, woran du gedacht hast?«, hakte Jude nach.
    »Es war beides. Nun, wenn du schon fragst, ich habe an jemanden gedacht, den ich früher kannte. Oh, das ist alles schon lange her, sehr lange. Nimm noch einen von den kleinen Kuchen, Liebes. Ich esse die nicht.«
    »Später vielleicht, Gran. Aber sag doch, an wen hast du gedacht?« Ihre Großmutter sprach nur selten über ihre Kindheit, und so genoss Jude es umso mehr.
    »Du kennst sie doch nicht, Jude. Es würde dir nichts bedeuten.«
    »Doch, und das weißt du auch. Gran, du bist gemein, du weißt doch genau, dass es mich fesselt, zu hören, wie es war, als du aufgewachsen bist. War es, als du in Starbrough gelebt hast?«
    »Ja, zu der Zeit. Einmal, als ich sieben oder acht Jahre alt war, bin ich in einem Wald einem Mädchen begegnet. In der Nähe von dem Cottage, wo ich gewohnt habe. Wir sind Freundinnen geworden.«
    »Erzähl mir davon«, bettelte Jude.
    »Wenn du noch einen von diesen kleinen Kuchen isst«, versprach ihre Großmutter. Ohne Widerspruch nahm Jude ein fondant fancy und biss hinein.
    »Damals ahnte ich es noch nicht, aber das Mädchen gehörte zu diesem fahrenden Volk. Es war eine echte Roma. Deshalb habe ich sie manchmal über Wochen und Monate gesehen, dann aber lange Zeit gar nicht. Manchmal ein ganzes Jahr nicht mehr. Sie hieß Tamsin.«
    Gran hielt inne, um Luft zu holen, und Jude fragte zwischen zwei Bissen: »Was ist aus ihr geworden?«
    »Das wollte ich dir gerade erzählen. Eines Tages, als ich neun oder zehn war, tauchte sie in der Schule auf. Du musst wissen, dass ich in Starbrough Village zur Schule gegangen bin. Wir haben alle in unseren Bänken gesessen und gerechnet oder was auch immer, und mich hat fast der Schlag getroffen, als die Tür aufging und der Direktor sie reinbrachte. Sagte, sie wäre die neue Schülerin, und, also, das war wie ein rotes Tuch, als er sagte, sie wäre eine Zigeunerin und wir sollten nett zu ihr sein.«
    »Aber das wart ihr wahrscheinlich nicht.« Jude bemerkte, dass der ländliche Akzent ihrer Großmutter breiter geworden war, als sie über die Vergangenheit sprach.
    »Ein paar von den Jungs waren am schlimmsten. Kein Wunder, dass Tamsin nicht besonders glücklich in der Schule war. Erst mal sah sie mit ihren Kleidern vom Ramschverkauf, mit ihrer bräunlichen Haut und den goldenen Ohrringen anders aus als wir. Außerdem war sie mit dem Lernstoff hintendran, was einen Teil des Problems ausmachte. Manche Kinder glaubten, sie wäre dumm. Beschimpften sie, behaupteten, dass Zigeuner Diebe seien und so was. Hatten sie bestimmt von ihren Eltern, obwohl ich so einen Unsinn zu Hause nie gehört habe. Mein Dad hat manchmal ein paar Worte über Wilddiebe verloren, aber er hat die Zigeuner nie schlimmer beschuldigt als irgendwen anders. Egal, ich schäme mich, aber ich war zu ängstlich, um in der Schule ihre Freundin zu sein. Ich dachte, dann würden sie auch auf mir herumhacken, du weißt ja, wie Kinder sein können. Aber manchmal in den Ferien, wenn dein Großonkel Charlie und deine Großtante Sarah und ich zum Turm gegangen sind, habe ich sie gesehen. Dann haben wir oft zusammen gespielt und waren quietschvergnügt. Es war, als hätte jede von uns noch eine Schwester. Und es schien ihr nichts auszumachen, dass wir in der Schule nichts mit ihr zu tun haben wollten. Ich hab oft darüber nachgedacht, wie unglücklich wir sie gemacht haben müssen.«
    »Vielleicht hat sie verstanden, dass du Angst hattest«, sagte Jude und fragte sich, wohin diese weitschweifige Geschichte noch führen würde. Sie war ein bisschen bestürzt darüber, wie sehr diese längst vergangene Episode ihre Großmutter heute noch beschäftigte.
    »Das hoffe ich«, sagte Gran, »zumindest habe ich mich nie beteiligt, wenn sie in der Pause über sie hergefallen sind. Noch einen Tee, Liebes?«
    »Danke.
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