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Die Karte Des Himmels

Die Karte Des Himmels

Titel: Die Karte Des Himmels
Autoren: Rachel Hore
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Und was ist nun aus Tamsin geworden?«, fragte Jude.
    Aber Gran presste nur die Lippen aufeinander. Dann schüttelte sie traurig den Kopf. »Wir ... ihre Familie ist fortgezogen. Ich hab sie nie wieder gesehen. Ich hab mich allerdings immer schlecht gefühlt. Ich hab ihr nicht geholfen, als es nötig war, konnte nicht ... und dann hab ich ihr was weggenommen, weißt du.«
    »Was?« Aber Jessie schien sie nicht zu verstehen. Schockiert bemerkte Jude die Qual im Blick ihrer Großmutter.
    »Es ist schrecklich, wenn du niemals verzeihst oder dir niemals verziehen wird«, sagte die alte Dame. »Es ist immer da – begraben, ja, aber du weißt, es ist da.«
    Später am Abend, nachdem sie zu Bett gegangen waren, konnte Jude hören, wie ihre Großmutter im Zimmer nebenan unruhig auf und ab ging, wie Schubladen rumpelnd aufgezogen und wieder zugeschoben wurden und wie Gran mit sich selbst sprach. Just in dem Moment, als sie beschloss, nachzusehen, ob es irgendeinen besonderen Grund für die Unruhe gab, hörte sie die Bettfedern quietschen, ein bisschen Gehuste, und dann trat Stille ein. Jude musste früh aufstehen und versuchte einzuschlafen. Wenn Gran mich braucht, dachte sie, wird sie mich bestimmt rufen.
    Aber der Schlaf kam nicht. Eine Weile kreisten ihre Gedanken um die Geschichte, die Gran ihr erzählt hatte, um das Zigeunermädchen im Wald von Starbrough. Da gab es einen Turm, Starbrough Folly. Follys, so wusste Jude, waren Bauwerke, die zur Ausschmückung der Gärten errichtet worden waren. Sie kannte das aus anderen Parks. Da gab es Türme, künstliche Ruinen, antike Torbögen und prächtige Schmuckpavillons. Gran hatte gesagt, dass sie bei diesem Turm gespielt hatten. Jude beschloss, ihn sich am nächsten Morgen auf jeden Fall anzusehen.
    Ihre Gedanken schweiften zurück in ihre eigene Jugend. Wenn sie damals zu Besuch gekommen waren, war Grandad mit Claire und ihr bei schönem Wetter in seinem kleinen Fischerboot hinausgefahren, um die Seehunde zu beobachten, die sich am Blakeney Point sonnten. Grandad war ein ruhiger, stiller Mann gewesen, der immer in der Nähe der Küste gelebt hatte und sich wohlfühlte, wenn man einfach nur zusammensaß und nicht viele Worte machte. Er hörte zu, wenn man ihm etwas erzählte, aber er stellte nicht die ganze Zeit über dumme Fragen, über die Schule und irgendwelche Lieblingsfächer und was man werden wollte, wenn man groß war – wie manche Erwachsene mit Kindern eben so redeten.
    Ihre Großmutter war dagegen eher praktisch veranlagt, geradlinig, immer beschäftigt, zum Beispiel mit der Zubereitung von Mahlzeiten, oder sie nähte neue Gardinen, oder sie stemmte die Hände auf die Hüften und stritt mit dem Milchmann über die Rechnung, oder sie brachte mit den Nachbarn die Welt wieder in Ordnung. Jude konnte sich erinnern, dass ihre Mutter immer wie auf Samtpfoten durchs Haus schlich, wenn sie in Blakeney waren. Normalerweise verging kein Tag, ohne dass sich Valerie und Jessie angefaucht hätten. Die beiden haben sich noch nie gut verstanden, hatte Grandad einmal erklärt. Es war komisch, dass die beiden mit dem Alter lockerer geworden waren. Und es war auch komisch, dass Jessie, die nur selten über ihre Kindheit sprach, so redselig gewesen war. Heute Abend, so schien es, war der Vorhang, der Gegenwart und Vergangenheit trennte, für einen kurzen Augenblick zur Seite geglitten.
    Die Vergangenheit. Ihre Vergangenheit. Jude erinnerte sich, was Gran ihr angedeutet hatte. Über Mark. Dass sie ihn gehen lassen musste. Aber so einfach war das nicht. Mit Caspar versuchte sie es, versuchte es verzweifelt und mit aller Kraft. Hoffte, dass der stockende dunkle Nebel in ihr sich auflösen und verflüchtigen würde, wenn sie sich nur ohne große Leidenschaft auf den Alltag einer beständigen Beziehung einließ. Dass die Liebe wieder fließen würde. Vielleicht war Caspar nicht der Richtige für sie – genau wie die Ohrringe, die er ihr geschenkt hatte. Bei der Auswahl hatte er vergessen, dass sie ihm erzählt hatte, was ihr wirklich gefiel. Aber vielleicht war es auch ihr Fehler, weil sie ihm nicht erlaubte, sie zu lieben. Er war der erste Mann, mit dem sie seit Mark richtig zusammen war. Langsam machte sie sich Sorgen, dass sie vergessen haben könnte, wie das eigentlich ging.
    Es war noch still im Haus, als Jude am nächsten Morgen von ihrem Reisewecker geweckt wurde. Sie wusch sich und zog die Sachen vom Vortag an, nur mit einem frischen Top. Sie wollte schick und professionell
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