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Die Känguru-Offenbarung (German Edition)

Die Känguru-Offenbarung (German Edition)

Titel: Die Känguru-Offenbarung (German Edition)
Autoren: Marc-Uwe Kling
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verlegen.
    »Jeden Tag kommen hier Hunderte von Ihresgleichen, Gesichtslose, wenn ich so sagen darf … stehen eine Weile vor dem Klassiker-Regal herum und kaufen dann, wenn keiner hinkuckt, heimlich Shades of Grey. Und ich kann Ihnen sagen, ich habe einen weitaus besseren SM-Roman verfasst. Aber den wollte ja kein Verlag haben. Obwohl ich immerhin wusste, wovon ich schreibe.«
    »Jeder Mensch ist ein Abgrund«, murmle ich. »Es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.«
    »Wollen Sie das Buch nun kaufen? Oder sind Sie nur einer von diesen einsamen Großstadtspinnern, die niemanden zum Reden haben außer wehrlosen Einzelhandelsangestellten?«
    Durch ein Kopfschütteln verneine ich die letzte Frage, kaufe das Buch und habe das Gefühl, ein sehr schlechtes Geschäft gemacht zu haben.
    Ich verlasse den Laden und entdecke auf der anderen Straßenseite ein Graffito 1 . Genauer gesagt entdeckte ich ein korrigiertes Graffito. Mit Schwarz steht an der Wand: »Sei ungehorsam!« Mit Rot steht darunter: »Nein!«
    1 Mein Lektor zwingt mich, Graffito zu schreiben, obwohl das scheiße aussieht und scheiße klingt, da es seiner Meinung nach der korrekte Singular ist. Er ließ sich nicht einmal durch den sehr treffenden Einwand erweichen, dass niemand ernsthaft sagen würde: »Entschuldige mal, aber du hast da ein Spaghetto am Kinn kleben«, selbst wenn das der korrekteste aller Singuli wäre. (Anm. des Chronisten)
    Kurz darauf erreiche ich unser Haus. Müde quäle ich mich durch den Flur und das Treppenhaus. Mein kaputter Rollkoffer humpelt hinter mir die Stufen hoch. Ich fürchte, ich muss ihn bald erschießen.
    Seufzend schließe ich die Tür auf.
    »Ich bin wieder da«, rufe ich in die leere Wohnung hinein. Nach all der Zeit passiert mir das immer noch. Leise singe ich vor mich hin: »Ain’t no sunshine when it’s gone … and this house just ain’t no home … anytime it goes away.«

»Man muss eine Weile nachdenken,
um zu erkennen, dass man unglücklich ist,
doch es lohnt sich.«
    Sigmund Freud
    »Ich fühle mich so einsam«, sage ich.
    »Aha«, sagt mein Psychiater. »Ich habe das Gefühl, dass Sie sich gerade sehr einsam fühlen.«
    »Wahnsinn …«
    »Viele Patienten sind erstaunt über mein Einfühlungsvermögen, aber dafür habe ich ja auch jahrelang studiert.«
    »Nun, jedenfalls bin ich auch wirklich einsam.«
    »Aha«, sagt mein Psychiater. »Haben Sie es schon mal mit Alkohol versucht?«
    »Wie bitte?«
    »Kleiner Scherz.«
    »Das ist nicht witzig«, sage ich. »Ich bin so einsam, ich führe schon Selbstgespräche.«
    »Wie bitte?«, fragt mein Psychiater.
    »Er sagte, er führe Selbstgespräche«, sagt mein Psychiater.
    »Aha«, sagt mein Psychiater.
    Ich blicke irritiert.
    »Wieder nur ein Scherz«, sagt mein Psychiater. »Wenn man lacht, ist alles halb so schlimm. Die Euphorie des spontanen Lachens ist ein momentaner Widerschein unseres vergangenen Kinderglücks.«
    »Was auch immer.«
    »Nun gut. Sie sind also einsam …«
    »Ja«, sage ich. »Das Känguru ist weg.«
    »Aha. Gut. Sehr gut.«
    »Wieso gut? Was soll denn daran gut sein?«
    »Nun, es freut mich, dass Sie geheilt sind.«
    »Ich habe mir das Känguru nicht nur eingebildet! Fangen Sie nicht wieder damit an.«
    »Ich nenne Ihnen jetzt spontan drei Wörter«, sagt mein Psychiater. »Bitte merken Sie sich diese Wörter. Ich werde sie am Ende der Sitzung nach diesen drei Wörtern fragen.«
    »Was soll das?«
    »Keine Sorge. Nur ein Standardtest.«
    »Schön und gut«, sage ich. »Aber ein Standardtest für was?«
    »Also, hier die drei Wörter: Äh … Suppe, … äh … Salat, … äh … äh … Schnitzel.«
    »Haben Sie Hunger?«, frage ich.
    »Ich darf nicht mit Patienten ausgehen«, sagt mein Psychiater. »Aber das Angebot schmeichelt.«
    »Ich wollte Sie nicht …«
    »Keine Sorge. Ich fühle mich nicht belästigt. Ich verstehe das. Sie sagten ja, dass Sie einsam sind.«
    »Aber ich wollte wirklich nicht …«
    »Das ist kein Grund, sich zu schämen. Ich fühle mich auch oft einsam.«
    Ich seufze und setze mich auf. Mein Psychiater blickt mir direkt in die Augen.
    »Wissen Sie, vielen Patienten fehlt etwas in der ersten Zeit, nachdem sie ihre Wahnvorstellungen überwunden haben«, sagt er.
    »Meine Wahnvorstellungen habe ich immer noch«, sage ich. »Immer wenn ich mich irgendwo sehr unbehaglich fühle, glaube ich plötzlich, meine Mutter schleiche sich von hinten an mich ran.«
    Ich werfe einen schnellen Blick über meine Schulter.
    »Ach. Das ist
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