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Die jungen Rebellen

Titel: Die jungen Rebellen
Autoren: Sándor Márai
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man mit diesen vier Karten beim Siebzehnundvier spielen. Nach dem Ramschen wechselten sie meist zu Siebzehnundvier. Die Doppel unterscheiden sich in nichts von den übrigen Karten des Spiels. Der Falschspieler war mit Bedacht vorgegangen, möglicherweise hatten sie schon monatelang mit den Karten gespielt. Er selbst hat das Kartenpäckchen irgendwann aus dem Schreibtisch des Vaters hervorgekramt. Es war ein jahrealtes, abgegriffenes ungarisches Blatt.
     
    ~
     
    Die Karten steckt er in die Tasche und geht ins Zimmer des Vaters hinüber. Von der Schwelle aus wirft er einen Blick in das Zimmer zurück, in dem irgendwann seine Mutter gelebt hat. Der Mensch weiß genau, wann er eine Gegend, einen Raum für immer verläßt. Die Familie bewohnte das Haus seit drei Generationen, und dieser Raum war stets das Zimmer der Frauen und Kinder. Vielleicht weil zwischen den betont weiblichen hellen Kirschholzmöbeln unter der niedrigen gewölbten Decke immer der Geruch harmloser Kinderkrankheiten, der Duft von Kamillentee, Veilchenwurz, Mandelmilch und Kindermet hing. Die Mutter hat nur kurz, vielleicht nicht länger als drei Jahre, in dem Haus gelebt; aber so wie Flakons mit starken orientalischen Parfüms, die man versehentlich für einen Tag unverschlossen läßt, mit ihrem Duft das Zimmer durchtränken, so hat auch die Erinnerung an die Mutter das Haus ganz durchdrungen. Bestimmte Gegenstände darf noch heute niemand berühren, das Trinkglas, das Nähtischchen, das Nadelkissen –wie unter einem Glassturz sind die Dinge lediglich zur Betrachtung da, obwohl darüber nie gesprochen wurde. An seine Mutter kann Ábel nur wie an eine sehr zarte jüngere Schwester denken, und er weiß, daß die so früh Verstorbene in der Erinnerung des Vaters genauso fortlebt. Er blickt zurück in das Zimmer, in dem er geboren wurde und in dem seine Mutter starb. Dann knipst er das Licht aus.
     
    ~
     
    Das Zimmer des Vaters wirkt im düsteren Licht der Straßenlaternen, als hätte man erst vor kurzem jemanden hinausgetragen, an dessen Erinnerungsbild die Hinterbliebenen noch nicht zu rühren wagen. Die Gegenstände strahlen eine gewisse Andacht aus, etwas beinahe Sakrales, wie es persönlichen Dingen von Toten anhaftet.
    Aber sein Vater ist nicht gestorben; wahrscheinlich steht er in diesem Augenblick in irgendeinem Feldlazarett am Operationstisch und sägt ein Bein ab. Oder er raucht auf seinem Zimmer, hat die Brille abgenommen, wühlt mit einer Hand in seinem Bart. Den Untersuchungsstuhl hier im Zimmer hat Etelka mit einem gehäkelten Tuch abgedeckt, aus Ehrfurcht und aus Gründen des guten Geschmacks, und nun wirkt er wie ein altmodischer Schaukelstuhl. Ábel hat kein Licht gemacht. Er steht in der Tür, die Hände in den Taschen vergraben, fingert mit der verschwitzten Hand an den Karten. Plötzlich breitet sich Hitze in seinem Körper aus: Die Kartenpartien haben zu Weihnachten angefangen, damals, als diese disziplinlose Unruhe um sich griff, in der sie seither leben. Möglich, daß jemand schon von Anfang an gemogelt hat; er selbst verlor immer. Hat alles verspielt, die Kolleggelder, die Geschenke der Tante, die Summen, die der Vater ab und zu schickt, alles. Kann es sein, daß der Gewinner falschgespielt hat? … Vielleicht fing gerade der Verlierer an zu mogeln, jetzt, kurz vor dem Ende? Ábel sieht die drei Gesichter vor sich, schließt die Augen.
    Seit ein paar Tagen ist ihm der Vater wieder ganz gegenwärtig. Kommt im Traum an sein Bett und beugt sich mit ernsten, traurigen Augen über ihn. Natürlich, einen Vater hat jeder. Und jeder ist irgendwo geboren. Was weiß man schon darüber? Vielleicht wird er es verstehen, wenn alles vorbei und er am Leben geblieben ist, wenn er, Ábel, mit Bauch und Bart in einer fremden Stadt durch die Straßen geht und plötzlich stehenbleibt, weil sein Vater auf ihn zukommt, sein Gesicht wie auf der Kinoleinwand übermenschlich groß wird und ganz nah ist, die riesigen Lippen sich öffnen, er etwas sagt, mit einem einzigen Wort sein ganzes Leben erklärt. So tritt manchmal eine Stadt aus der Dunkelheit hervor, wird heller, immer heller, man erkennt jedes Blatt an den Bäumen, die Tore der Häuser öffnen sich, Menschen kommen auf die Straße und beginnen zu reden. Schließlich beugt sich ein Mund über den anderen, und die Augen schließen sich in Ohnmacht.
    Im Zimmer ist es kühl. Die Instrumente glitzern in der Glasvitrine. Seine Studien verwahrt Vater unten in der Schublade, auch die histologischen
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