Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die jungen Rebellen

Titel: Die jungen Rebellen
Autoren: Sándor Márai
Vom Netzwerk:
Schnitte von Gehirnen, über deren pathologische Veränderungen er ein Buch geschrieben hat, das er auf eigene Kosten drucken ließ. In der Bibliothek liegen noch Hunderte Exemplare davon. Damals, kurz vor dem Krieg, hat der Vater keine Patienten mehr behandelt, nur drei Besucher kamen noch zu ihm: der Richter, die Dame mit dem Wackelkopf und der schwachsinnige Zigeunerprimas, der sich stets zu den Mahlzeiten einzufinden pflegte und die am Tisch Sitzenden mit seinem Geigenspiel unterhielt. Vater behandelte die drei Kranken wie Familienmitglieder. Diese Patienten verehrten ihn. Meistens saßen sie nach dem Abendessen im Raum wie enge Verwandte, die sich zu leutseliger gegenseitiger Bewunderung versammelt haben. Die Dame mit dem Wackelkopf und Etelka häkelten, der Richter saß mit ernster, erwartungsvoller Miene unter dem Kristalllüster und hielt den Knaben auf dem Schoß; der Zigeunerprimas stand, den Bogen in der Hand, die Geige unter dem Arm und etwas zur Seite geneigt, in der lässigen, von Ansichtskarten geläufigen Pose des berühmten Künstlers neben dem Klavier. Stundenlang verharrten sie schweigend, als warteten sie auf etwas, während der Vater, über den Tisch gebeugt, mit seinen histologischen Präparaten herumwerkte und sich nicht um sie kümmerte. Gegen elf gab er mit einer Hand das Zeichen, daß sie nun aufbrechen könnten. Dann verneigten sie sich tief und gingen. Nur äußerst selten geschah es bei diesen Zusammenkünften, daß Vater etwas sagte, die Patienten wandten sich ihm in solchen Fällen mit ehrfurchtsvollem, fast schon schmerzhaft ernstem Gesichtsausdruck zu; hörten sich die Offenbarung an, gewöhnlich etwas so Bedeutsames wie »ein kühler Tag heute«–und zogen sich dann kopfnickend in ihre Welt des tiefgründigen Sinnierens zurück. Die Dame mit dem Wackelkopf unterstrich durch pausenloses Zwinkern, daß sie dem Gehörten zustimme, der Richter und der Zigeunerprimas grübelten mit in Falten gelegter Stirn weiter über den tieferen Sinn der soeben vernommenen Worte nach. Ábels Kindheit war randvoll mit solchen Abenden.
    Zwei Szenen, die sich in diesem Zimmer zugetragen haben, sind ihm besonders gegenwärtig. Die eine ruht ganz tief unter allen anderen Erinnerungen. Er ist vier oder fünf Jahre alt, sitzt allein auf dem Fußboden in diesem Zimmer und spielt. Der Vater tritt ein, setzt sich zu ihm auf den Boden und fängt ganz unvermittelt an zu singen:
     
    »Au claire de la lune
    Mon ami Pierrot … «*
     
    Er kennt das Lied, Etelka hat es ihm beigebracht. Vaters Mund öffnet und schließt sich, das Gesicht ist in einer merkwürdigen Grimasse zum Lachen verzogen, mit spaßigem Lispeln quillt der Gesang durch das riesige Gebißhervor. Er ahnt, daß der Vater alles wiedergutmachen will, was sich seit dem Augenblick seiner Geburt zwischen ihnen zugetragen hat, das Schweigen, die Einsamkeit, die Distanz, das Blendwerk, in dessen Bann sie bisher neben einander lebten; er will den Bann mit Hilfe dieser einzigen Bewegung lösen, mit der er sich jetzt neben ihn kauert und launig ein Kinderlied singt. Ist er verrückt geworden? –denkt Ábel. Die Stimme des Vaters wird zaghafter. Er singt noch:
     
    »Ma chandelle est morte,
    Je n ‘ai plus de feu ...«,
     
    aber dann schauen sie sich in die Augen und schweigen. Auf dem Hauptplatz steht ein Denkmal, ein riesiger Soldat, in Bronze gegossen, der dem Despoten seine Waffe an die Brust setzt: Ábel hat das Gefühl, als wäre diese Figur vom Sockel gesprungen und würde in voller Montur auf allen Vieren zu rennen beginnen. »Plus de feu …«, wiederholt er mit zitternden Lippen, um den Vater zu trösten, und empfindet unsägliches Mitleid mit ihm. Er beginnt zu weinen. Der Vater rappelt sich langsam hoch, geht zum Tisch, schiebt die Bücher hin und her, als suche er etwas, merkt, daß das Kind seine Bewegungen verfolgt, zuckt die Achseln und verläßt dann das Zimmer. Es dauert lange, bis sie sich danach wieder in die Augen sehen, als wären sie zwei Menschen, die das Geheimnis einer demütigenden Lüge zu Komplizen gemacht hat.
    Sehr viel später, vielleicht nach zehn Jahren, sitzt der Vater eines Abends hier am Tisch im Lichtschein der Lampe und studiert einen seiner histologischen Schnitte, als der Knabe eintritt. Es ist früher Nachmittag, im Winter. Der Knabe bleibt im Halbdunkel stehen, doch der Vater streckt die Hand aus, winkt, er solle nähertreten. Zwischen zwei Glasplättchen klebt eine bläuliche trockene Materie mit Flecken und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher