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Die Janus-Gleichung

Die Janus-Gleichung

Titel: Die Janus-Gleichung
Autoren: Steven Spruill
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ob man am Grunde eines dunklen Brunnenschachtes säße. Die graue Schaumgummiwand bot dem Auge keinerlei Anhaltspunkt, die Aufmerksamkeit wurde statt dessen auf die Meningigram-Apparatur gelenkt. Essian las die winzige Beschriftung, Ameritec, Inc. die sich um den Äquator der Weltkarte schlängelte, während Golding die Kabel an den Armlehnen und den Beinen des Stuhles anschloß; Blutdruck, GSR, Puls, Atmung, Nervenspannung, optische Reaktionen, das Gleichgewicht von Sympathikus und Parasympathikus und noch weitere Apparaturen, von denen Essian nicht wußte, was sie untersuchen sollten. Golding streifte ihm vorsichtig die Augenklappen über, und Essians Augen zuckten unter den geschlossenen Lidern, als die winzigen Drähte die Haut über den Pupillen berührten.
    »Jetzt entspannen Sie sich einfach.« Goldings Stimme strömte irgendwo von der linken Seite her über Essian hinweg. »Bis die Schutzbrille wieder entfernt ist, wird es Ihnen nicht möglich sein, die Augen zu öffnen. Kämpfen Sie nicht gegen die Sonde an; lassen Sie sie einfach in sich eindringen, lassen Sie sie zu einem Teil Ihrer selbst werden. Die Antworten des Gerätes sind Ihre Antworten. Seine Aussagen die Ihren. Es sieht, was Sie sehen…«
    Goldings Stimme schien im Raum umherzuwandern. Essians Mund war trocken, und er spürte, wie sein Herz schmerzhaft pochte. Das Muskelentkrampfungsmittel schoß kühl seinen Arm hinauf; Arme und Beine wurden in Baumwolle gewickelt, nur sein Gehirn war merkwürdig wach. Dann begannen die Phantasiebilder seinen Geist zu überfluten. Direkte Netzhautstimulation, sagte er sich, und eine andere innere Stimme warf das Echo zurück, verschmolz mit der ersten. Ein Raster irisierender weißer Linien entstand vor einem schwarzen Hintergrund; er versuchte die bereits geschlossenen Augen zuzukneifen, aber es gab kein Entkommen.
    »Der obere Teil ist kürzer«, platzte er heraus. »Es ist der Computer, der redet, und nicht du.« Essian wunderte sich, weshalb er du und nicht ich gesagt hatte. »Ja, die obere Linie ist länger, kürzer, länger.« Immer mehr Phantasiebilder wurden ihm hinter den geschlossenen Lidern vorgegaukelt, und er versuchte ihr Geheimnis zu ergründen, ihr magisches Feld umzudrehen. »Manchmal kann ich nachts nicht schlafen«, sagte er. »Meine Mutter war eine gute Frau. Ich habe immer alle Leitartikel in der Tageszeitung gelesen. Die meisten Menschen verhalten sich freundlich, weil sie irgend etwas von einem wollen.« Die Sätze quollen in einem beharrlichen Strom aus Essian heraus; wie aus weiter Ferne konnte er das Summen des Meningigrams hören; das leise Klicken der Federn, die die runden und gezackten Linien auf dem hitzeempfindlichen Papier, das aus der Maschine kam, aufzeichneten. Seine Handflächen auf den Stuhllehnen wurden feucht und glitschig.
    »Ich habe Angst, Angst«, sagte er – oder die Maschine. »Ich habe Angst vor dem, was die Untersuchung unter Umständen ans Licht bringt.« Ein heftigeres Klicken der Federn, noch eine kühle Welle des Muskelentkrampfungsmittels; dann schwamm er in einem der kristallklaren Teiche des Parklands, roch den herben Duft der Kiefern und fühlte die wärmende Sonne auf seinem Gesicht. In der verzerrten Perspektive des Fischauges schien sich der schimmernde Turm von Meridian Alpha schützend über ihn zu neigen. Das Wasserpolster unter ihm war warm, so warm wie Fruchtwasser. Er glitt ganz leicht in das neue Bild hinein, denn er wußte, daß es sich hierbei nicht um eine Erinnerung, sondern um eine Phantasie handelte, die ihn von der Welt der Erwachsenen an die Stätte seiner Geburt führte. Da war die endlos lange Reihe der Embryos, die in ihren bernsteingelben Tanks eingesperrt lagen, und deren Nabelschnüre sich wie die Stengel von Unterwasserpflanzen nach oben schlängelten. Und da waren die Gesichter der Eltern, das seiner Mutter, die ihn prüfend anschaute, von der fürchterlichen Trockenheit, die außerhalb des Tanks herrschte, völlig ausgetrocknet. Während er sich treiben ließ, änderten sich die Erinnerungen. Jetzt konnte er seine Mutter sehen, die sich über sein Kinderbett beugte, und hinter ihr, halb im Schatten, nahm er Kopf und Schultern von Ilene wahr, die ihn aufmerksam beobachtete – und mit gemischten Gefühlen. Essian tastete nach der halb verschütteten Erinnerung an seine Mutter und die andere Frau; erinnerte sich flüchtig, wie die beiden einander in den Armen gelegen hatten, an ihre rosa Zungen, die den Mund der anderen erkundeten;
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