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Die Janus-Gleichung

Die Janus-Gleichung

Titel: Die Janus-Gleichung
Autoren: Steven Spruill
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seinem Sessel zurück. Das Glas, das er in der Hand hielt, war fast leer, und das Gefühl, geschlagen worden zu sein, hatte sich noch vertieft. Was war es nur, das ihn neuerdings immer wieder an Pierson störte? Einem Impuls folgend gab er seinem Tischcomputer den Code ein, und auf dem Bildschirm vor ihm erschienen ihre persönlichen Daten. Auf der ersten Seite des Mikrofilms waren zwei Photos zu sehen, das eines jungen Mannes und das einer jungen Frau, die nur wenig Ähnlichkeit miteinander besaßen. Die Überschrift der Beschreibung lautete: Janet Pierson, 32, früher J. W. Pierson. Essian ertappte sich dabei, wie er sich ihren Körper vorstellte, braungebrannt und fast mager. War dort, wo sich früher einmal die Geschlechtsorgane befunden hatten, die sie als Mann auswiesen, jetzt eine Narbe? Er schüttelte den Kopf und schob die Gedanken beiseite.
    Trotzdem war das, was Pierson getan hatte, noch immer keine Angelegenheit, die man so ohne weiteres einfach akzeptieren konnte. Piersons Abweichung. All die anderen sexuellen Abweichungen, die die Gesetze der von den Konzernen gelenkten Gesellschaft offiziell schützten. Alles in allem konnten es sich die Konzerne nicht leisten, auf die Mitarbeit von jemandem wie Pierson zu verzichten, nur weil sie… getan hatte, was sie eben getan hatte. Tief in ihrem Innern mochten es ihr die meisten wohl noch immer zum Vorwurf machen, aber nicht die Konzerne. Die Konzerne waren fair. Die Konzerne waren dem Gesetz treu, und es war die Fairneß und Gesetzestreue von Buchstaben auf dem Papier. Aber wieviel Verwirrung man doch im Dickicht der Gefühle, tief unter den geraden Gängen des anerzogenen richtigen Sozialverhaltens, verspüren konnte! War denn Piersons Entscheidung, als Frau zu leben, wirklich emotional nicht akzeptabel? Sie war eine talentierte Mathematikerin, für ihn und Meridian unentbehrlich. Sie wurde respektiert, und diesen Respekt schuldete man ihr auch; sie hatte sogar einen Liebhaber gefunden, obwohl der Finanzchef des Konzerns ein berüchtigter Wüstling war und doppelt so alt wie sie – ein Mann, dessen Ausschweifungen ein ständiger Prüfstein für das Prinzip waren, das hinter der Sozialpolitik des Konzerns stand: Toleranz gegen Leistung.
    Aber was war mit den Leuten, die weniger begabt waren, deren Fähigkeiten ihre Abweichungen niemals aufwiegen konnten? Das Gesetz gegen die Diskriminierung sexueller Minderheiten schützte auch sie, zumindest vor öffentlichen Belästigungen, aber was bewahrte sie vor Mißachtung? Die Vorstellung von seiner Mutter und Ilene, die sich ihm noch immer aufzwängte, sobald er die Augen schloß, kehrte zurück und ließ ihn die Beinmuskulation fluchtbereit anspannen. Seine Mutter hatte ihn geliebt. Das wußte er genau, aber sie hatte auch die Liebe von jemand anderem benötigt – aber brauchte das nicht jeder? – und er konnte es verstehen, er konnte es wirklich. Die Frage war noch nicht einmal, ob er ihr vergeben hatte. Sie hatte keinerlei Vergebung nötig; die Gesellschaft hatte das schwarz auf weiß bestätigt. Und wenn die Gründe der Gesellschaft selbstsüchtig waren, lediglich verankert, um die wenigen außergewöhnlichen Mitarbeiter zu schätzen, die man mit Intoleranz nur verloren hätte, dann war das Gesetz nicht weniger unmoralisch. Also, warum nur glaubte er, ihr so viel verzeihen zu müssen? Sie hatte ihr Bestes getan. Es gab nichts, was man ihr nachsehen mußte. Seine Mutter hatte eine andere Frau geliebt, so wie eine Frau sonst nur einen Mann liebte, und das war in Ordnung, es war alles so…
    Essian stellte auf einmal fest, daß er beide Hände zu Fäusten geballt und auf die Schreibtischplatte gepreßt hatte. In den Handkanten prickelte es, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, auf den Tisch eingeschlagen zu haben. Ja, Pierson. Vielleicht hatte sie mit Golding gesprochen, hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, daß… daß was? Daß er durch die Leute hindurchsah, während sie mit ihm sprachen, daß er zwischen Fenster und Schreibtisch einen Pfad auf dem Läufer ausgetreten hatte, daß er in immer kürzeren Abständen den Alkoholbestand seiner Bar auffrischte? Hatte er nicht unbewußt schon bemerkt, daß ihn Janet in den vergangenen Wochen beobachtet hatte? Oder drehte er durch? Vergeblich suchte Essian in der Begegnung mit Pierson nach einem Anzeichen dafür, daß sie über seinen Besuch bei Golding gewußt hatte. Er trat ans Fenster und starrte gedankenverloren auf die Parklandschaft. Die Ränder der
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