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Die Jaegerin

Die Jaegerin

Titel: Die Jaegerin
Autoren: Brigitte Melzer
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vom schwarzen Stamm der Eiche ab. Vater Ninians Herzschlag setzte für einen Moment aus und auch seine Worte gerieten ins Stocken. Hastig senkte er den Kopf, nahm seine Augen von dem grausigen Anblick. Doch selbst jetzt, da er wieder auf die Flammen blickte, wollte es ihm nicht gelingen, zu verdrängen, was er gesehen hatte. Ausgemergelte Züge, so durchscheinend, dass sie kaum zu fassen waren. Er hatte die Andeutung strähnigen grauen Haars gesehen, das in dünnen Fäden auf kaum erkennbare Schultern herabfiel. Von der Schönheit, die man ihr zu Lebzeiten nachgesagt hatte, war nichts zu erkennen.
    Es fiel Vater Ninian schwer, nicht ständig aufzusehen. Seine Furcht, die Ushana könne ihn angreifen, war groß. Der Kreis schützt mich! Dennoch fragte er sich, ob es wirklich gelingen könne, die finstere Kreatur ein für alle Mal zu bannen.
    Im Inneren der brennenden Puppe schmolz das Wachsherz und gab das Weihwasser frei, das sich mit einem Zischen in die Flammen ergoss. Das Kreischen der Ushana wurde lauter. Diesmal bestand kein Zweifel daran, dass sie Schmerzen hatte. In lateinischen Gebetsformeln flehte Vater Ninian um Schutz und Erlösung. Während das Ritual weiter voranschritt, konnte er den Blick nicht länger von der Ushana fernhalten. Ihre Züge gewannen mehr und mehr an Kontur, bis der Baumstamm hinter ihr nicht länger zu sehen war. Ihr Gesicht glich einer verzerrten Fratze; die Augen brennend vor Hass, die Haut runzlig wie altes Pergament. Langsam schälte sich auch ihr Leib aus der Dunkelheit. Eine schlanke Gestalt mit langen, zarten Gliedern. Der Bann war gebrochen. Die Ushana nicht länger gefangen. Mit ihren Klauen schlug sie nach Vater Ninian. Sie versuchte ihn zu fassen zu bekommen. Doch die Linien des Kreises hielten sie zurück. Nun hing alles davon ab, dass er keinen Fehler machte. Ein winziger Ausrutscher, ein falsch betontes Wort oder eine falsche Bewegung konnten ihn jetzt bereits das Leben kosten.
    Wort um Wort fuhr er fort, vorsichtig und dennoch bestimmt. Zunächst war seine Aufmerksamkeit so sehr von der Ushana beansprucht, dass er der Eiche hinter ihr keine Beachtung schenkte. Dann jedoch bemerkte er eine Veränderung. Die hängenden Äste schienen sich zu bewegen, als reckten sie sich dem Himmel entgegen. Der Stamm schien mit einem Mal weniger dunkel. Es dauerte eine Weile, ehe Vater Ninian begriff, dass er nicht länger schwarz war, sondern braun, wie er sein sollte. Da entdeckte er eine erste zarte Knospe an einem der unteren Äste. Als striche der Hauch einer ganzen Jahreszeit binnen weniger Atemzüge über den Baum hinweg, füllten sich die Äste mit Knospen, aus denen Blätter und Blüten wuchsen. Früchte hüllten den Baum ein. Und über dem Wunder des Lebens, dessen Zeuge er werden durfte, lag der durchdringende Schrei der Ushana. Dann verstummte sie. Wilder Triumph erfüllte Vater Ninians Herz. Das Ritual zeigte Wirkung! Das Böse begann sich aus den Ruinen zurückzuziehen und bald wäre auch die Ushana nur noch eine schreckliche Erinnerung.
    Während er mit seinen Gebeten fortfuhr, verzehrten die Flammen, was noch vom Scheiterhaufen und der Puppe übrig war. Wurde die Ushana wieder durchscheinend? Neigte sich das Ritual seinem Ende zu? Würde sie schließlich einfach zerfließen wie Nebel unter dem Wind?
    Ihr zorniges Brüllen war verstummt. Sie versuchte nicht länger sich dem Kreis zu nähern und ihn zu durchbrechen. Stattdessen hielt sie am Rande inne, die klauenartigen Hände gesenkt. Der Hass in ihren Augen war erloschen. Selbst die Runzeln in ihrem verfallenen Gesicht schienen sich geglättet zu haben. Je intensiver Vater Ninians Gebete dem Höhepunkt zusteuerten, desto ruhiger wurde sie. Ihr Körper wiegte sich sacht im Rhythmus seiner Worte. Lächelte sie? Hatte sie begriffen, dass er nicht vorhatte, sie seinem Willen zu unterwerfen? Will sie etwa vernichtet werden? Plötzlich erstarrte die Ushana mitten in der Bewegung, den Blick auf einen Punkt hinter Vater Ninian gerichtet. Schlagartig wich die Ruhe aus ihren Zügen. Erstaunen erfasste ihre farblosen Augen. Vater Ninian fuhr herum, gerade rechtzeitig, um den Arm zu sehen, der auf ihn zuschoss. Seine Gebete verstummten. Kräftige Finger schlossen sich um seine Kehle und rissen ihn aus dem Kreis. Er wurde in die Höhe gehoben, bis er keinen Boden mehr unter seinen Füßen spürte. Hilflos strampelnd fand er sich in dem fremden Griff wieder, längst außerhalb des schützenden Kreises. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die
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