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Die Jaegerin

Die Jaegerin

Titel: Die Jaegerin
Autoren: Brigitte Melzer
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der Erde gewachsen. Ebenso tot wie der Ort, an dem sie sich erhob. Er zweifelte nicht daran, dass alles, was man sich darüber erzählte, der Wahrheit entsprach. Die Vorstellung, dieser Baum könne je ein grünes Blatt oder auch nur eine Knospe getragen haben, war vollkommen abwegig. Aus dem Tod entsprang kein Leben! Der Stamm der Eiche war schwarz, ebenso wie ihre Äste. Als sei sie aus dem Feuer geboren. Mit jedem Schritt, den Vater Ninian näher kam, schienen sich die verdorrten Äste ein wenig mehr nach ihm zu recken. Knorrige Arme, die danach trachteten, ihn zu packen.
    »Du wirst mich nicht bekommen«, murmelte er und trat in den Schatten der Eiche. Das Unbehagen, das sein Herz umklammert hielt, seit er durch den Torbogen geschritten war, wollte sich nicht mehr abschütteln lassen. Dennoch würde er nicht kehrtmachen. Er kniete vor dem schwarzen Stamm nieder, legte sein Bündel auf den Boden und öffnete es. Zielsicher fanden seine Finger einen Lederbeutel und holten ihn hervor. Beinahe bedächtig entfernte er die Schnüre und streute das darin befindliche Pulver in einem Kreis um sich herum auf den Boden. Seine Augen folgten der hellgrauen Linie, die sich langsam um ihn schloss. Der Wind hätte das feine Pulver aufnehmen und davontragen müssen, stattdessen streifte die leichte Brise darüber, als wäre sie nicht in der Lage, das Pulver auch nur zu berühren.
    Ein leises Lächeln streifte über Vater Ninians Gesicht. »Gott ist mit mir.« Er stimmte ein Gebet an, das erste in einer langen Reihe von Gebeten, die im Laufe des Rituals noch folgen würden. In lateinischen Worten erflehte er den Schutz Gottes und bat darum, dass die Ushana es nicht vermöge, den Kreis zu durchbrechen. Die Ingredienzien des Pulvers, Silberstaub und gemahlener Stechginster, würden sie auf Distanz halten, wenn im Laufe des Rituals die Fesseln abfielen, die sie gefangen hielten. Sobald der Kreis geschlossen war, holte er – ohne seine Gebete zu unterbrechen – eine Handvoll dürrer Zweiglein aus seinem Bündel und schichtete sie vor sich zu einem kleinen Häufchen auf. Ein Symbol des Scheiterhaufens, dem eine mit Stroh gefüllte Flickenpuppe folgte. Im Inneren der Puppe befand sich ein Herz aus Wachs, dessen Kern mit Weihwasser gefüllt war. Es war nicht wirklich ein Herz, vielmehr ein hohler Klumpen, der das Herz der Ushana symbolisieren sollte. In den vergangenen Wochen hatte es einiger Versuche bedurft, bis es Vater Ninian endlich gelungen war, das Wachs so zu formen, dass es das Weihwasser in seinem Inneren hielt.
    Während er unaufhörlich lateinische Formeln murmelte, blickte er auf die wenigen Dinge, die nun ausgebreitet vor ihm lagen. Es hatte ihn Jahre gekostet, dieses Ritual zu finden. Umso erstaunlicher war es, wie einfach es durchzuführen war. Mit der Flickenpuppe und dem Häuflein Zweige würde er die Ereignisse von einst nachstellen, während er Gott in seinen Gebeten anflehte, rückgängig zu machen, was der Unendliche damals getan hatte. Das Feuer würde die Puppe verzehren, wie es einst den Leib der Ushana verzehrt hatte, und das Wachsherz schmelzen. Das auf diesem Wege freigegebene Weihwasser sollte reinigen, was der Unendliche mit seiner Gegenwart befleckt hatte. Das Wort Gottes würde alles Böse tilgen, das in den Ruinen Dun Domhainns lauerte. Das Ritual würde seine Wirkung tun – Vater Ninian zweifelte nicht daran. Wovor er sich jedoch fürchtete, war der Augenblick, in dem die Ushana sichtbar werden würde. Es war schon schwer genug, mit dem beklemmenden Gefühl fertig zu werden, das ihre bloße Gegenwart in ihm entfachte. Wie er mit ihrem Anblick fertig werden sollte, wusste er nicht.
    Schon jetzt konnte er ihre Wut und ihren Hass spüren, die wie eisiger Nebel auf ihn herabsanken und ihn einhüllten. Dennoch fuhr er in seinem Tun fort. Er legte die Flickenpuppe auf den Strohhaufen und setzte ihn in Brand. Ein zorniges Brüllen erfüllte die Luft, zuerst aus einiger Entfernung, dann immer näher kommend, so laut, dass er unwillkürlich selbst die Stimme erhob. Die Flammen leckten über die Zweige, nahmen sie in Besitz und griffen langsam nach der Puppe. Ein Bein brannte bereits. Unaufhörlich breitete sich das Feuer weiter über die Puppe aus. Die Schreie der Ushana gingen in ein schrilles Kreischen über, als bereitete ihr das fortschreitende Ritual Schmerzen. Das Brüllen war jetzt so nah, dass er den Blick von seinen Artefakten wandte. Am Rande des Kreises hoben sich die bleichen Umrisse eines Gesichtes
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