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Die Jaegerin

Die Jaegerin

Titel: Die Jaegerin
Autoren: Brigitte Melzer
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bin alt und meine Zeit nähert sich dem Ende. Wenn Du diese Zeilen erhältst, werde ich bereits bei meinem geliebten Gemahl sein. Du, mein Sohn, bist dann der neue Earl des Glen Beag. Behalte stets in Erinnerung, wie wichtig es ist, Dich und die Deinen zu schützen! Sarah mag tot sein – die Ushana ist noch immer dort draußen. Sie lauert in den Ruinen, das spüre ich. Sei auf der Hut! Gott schütze Dich!
     
    Vater Ninian blickte so lange auf das vergilbte Pergament, bis die Buchstaben vor seinen Augen zu verschwimmen begannen. Er wusste nicht, wie oft er Mary MacKays letzten Brief schon gelesen hatte. Zweifelsohne oft genug, dass sich die Zeilen längst in sein Gedächtnis gebrannt hatten. Der Brief war Teil der Aufzeichnungen des Kirchenarchivs, die sich vor ihm auf dem Schreibtisch stapelten und jeden Zoll der schartigen Tischplatte bedeckten. Bücher, Pergamente und Schriftrollen, die alle nur ein Thema hatten: die Geschichte der Ushana.
    Vater Ninian hatte während der letzten Jahre so viel Wissen angehäuft, dass nicht nur der Schreibtisch darunter zu verschwinden drohte. Überall in seinem Arbeitszimmer stapelten sich die Spuren seiner Nachforschungen. Landkarten, eigene Aufzeichnungen, Bücher und Dokumente füllten den einstmals so kargen Raum inzwischen bis in die letzten Winkel. Auf einem Ablagetisch neben dem Kamin türmten sich Artefakte, die er zu seinem Schutz angesammelt hatte: Weihwasser, getrockneter Stechginster und ein silberner Dolch. Das hölzerne Kreuz trug er stets um den Hals und hatte es schon seit Jahren nicht mehr abgelegt. Nicht seit er wusste, welches Unheil das Glen Beag heimsuchte.
    Er faltete Mary MacKays Brief sorgfältig zusammen. Vorsichtig, um das brüchige Pergament nicht zu beschädigen, strichen seine knochigen Finger über die Faltkanten, während seine Gedanken durch die Vergangenheit wanderten. Mary MacKays Sohn war ein langes Leben vergönnt gewesen, das erst im hohen Alter ein friedliches Ende gefunden hatte. Sichtlich hatte er die Warnungen seiner Mutter ernst genommen. Zumindest ernst genug, um die Tradition des Tages der Ushana, der selbst heute – beinahe zweihundert Jahre später – noch immer begangen wurde, aufrechtzuerhalten.
    Als Vater Ninian das Pergament schließlich zur Seite legte, zitterten seine Finger. Der Gedanke daran, was zu tun er im Begriff war, beunruhigte ihn. Zugleich wusste er, dass es endlich getan werden musste. Mary MacKay mochte diese Zeilen vor langer Zeit geschrieben haben, dennoch hatte die Warnung darin nichts von ihrer Brisanz verloren. Die Ushana war noch immer hier. Gefangen gesetzt von einem Menschen, der versucht hatte sie für seine Zwecke zu benutzen. Der Mensch war tot, doch die Ushana noch immer von seinem Bann am Rande der Wirklichkeit gefesselt. Ein Umstand, den sich Vater Ninian zunutze machen würde. Die Ushana hatte zu viel Leid über zu viele Menschen gebracht. Das musste endlich aufhören!
    Alle Vorbereitungen waren getroffen. Noch in dieser Nacht würde er das Werk vollenden, das er vor fünf Jahren begonnen hatte. Vater Ninian erhob sich. Er warf sich den dicken Wollumhang über die Schultern, griff nach dem Bündel, das neben der Tür bereitstand, und verließ das Pfarrhaus. Eisige Luft schlug ihm entgegen und entriss ihm den Atem in dampfenden Wolken. Vereinzelte Schneeflocken tanzten durch die Nacht. Unwillkürlich zog er den Umhang enger, ehe er den ersten Schritt tat. Dicht an dicht stehende Steinhäuser duckten sich in die winterliche Gasse, die Fassaden in eine dünne, glitzernde Eisschicht gehüllt. Obwohl der Halbmond den Himmel mit seinem Schein erfüllte, vermochte sein Licht nur an wenigen Stellen bis zum Boden vorzudringen. Die Dunkelheit störte Vater Ninian nicht. Die schmalen Straßen Asgaidhs waren ihm ebenso vertraut wie die tückischen Pfade des Glen Beag. Mit strammen Schritten folgte er der Hauptstraße zum Ende des Ortes. Langsam rückten die Häuser auseinander und gaben den Blick auf die dunklen Silhouetten der Bergketten frei, die das Glen von allen Seiten einfassten. Ein enger Pfad wand sich die felsigen Hänge hinauf, teils unter tief liegenden Nebelschwaden verborgen. Schroffe Kanten erhoben sich wie stumme Beobachter im fahlen Mondlicht und wiesen ihm den Weg am Rande des Hanges, tiefer in den Berg. Mit sicheren Schritten folgte Vater Ninian dem Pfad, das Bündel fest an die Brust gepresst, als wäre es sein kostbarster Besitz. Heute Nacht war es das auch. Es hatte viel Zeit in Anspruch
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