Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Autoren: Jordi Punti
Vom Netzwerk:
konntest dir ausmalen, in welcher Szene sich die erstarrten Schauspielerinnen und Schauspieler wohl gerade befanden. Aber wenn du noch nichts über die Handlung wusstest, konntest du nicht erraten, ob der Film eine Komödie, ein Melodram oder ein Krimi war. Ob sie gleich lachen oder weinen würden.
    Ja, so ist es. Gabriel, unser Vater, unser Schauspieler, still und starr auf allen Fotos; und je länger du ihn anschaust, desto mehr hypnotisiert er dich.

2
S O ETWAS KOMMT VOR
    Unser Vater heißt – oder hieß – Gabriel Delacruz Expósito. Fangen wir damit an.
    Den Namen gab ihm die Mutter, die ihn gebar; sei es im Andenken an den Menschen, der sie geschwängert hatte, sei es in Ehrerbietung vor dem Erzengel, der den Kleinen dafür sein Leben lang beschützen sollte, oder sei es einfach, weil in jener Nacht auf der Straße jemand einen Herumtreiber namens Gabriel verfluchte und sie inspirierte. Wir werden es niemals überprüfen können. Doch irgendeinen wichtigen Grund wird die Frau gehabt haben, dass sie sich noch die Mühe machte, dem Kind einen Namen zu geben.
    Ein Ehepaar, das im Mercat del Born Kabeljau verkaufte, fand ihn gegen sechs Uhr früh. Sie waren an dem Morgen die Ersten an der Markthalle. Im Dämmerlicht hielten sie das kleine Tuchbündel neben dem Haupttor im Carrer Comerç für einen angefaulten, von den Müllmännern vergessenen Blumenkohl; die machten manchmal um Mitternacht hier eine Pause und griffen sich so ein Gemüse, um damit Fußball zu spielen. Doch plötzlich begann der Blumenkohl klägliche Schreie auszustoßen. Der Nachtwächter, mit dem sich das Fischhändlerpaar gerade unterhielt, trat an das Bündel heran und beleuchtete es mit seiner Laterne. Vorsichtig nahm die Frau es hoch, und zwischen den Tüchern kam ein nacktes Neugeborenes mit bläulicher blutverkrusteter Haut zum Vorschein. Es fuchtelte mit den Ärmchen, schnappte mit den Lippen, auf verzweifelter Suche nach einer Brustwarze. Als sie es so hilflos und leidend sah, band sich die Fischverkäuferin rasch die Schürze auf, schob ihren Wollpullover hoch, legte vor den Augen ihres Ehemanns, des Nachtwächters und noch einiger Neugieriger, die dazugekommen waren, eine Brust von der Größe eines Kürbisses frei, ihre linke, und schob sie dem Kleinen in den Mund. Alle starrten hin, überwältigt vom Anblick dieser Pracht. Selbst der Nachtwächter hatte Mühe, die Haltung zu wahren, die sein Amt ihm abverlangte. Das Kleine reckte den Hals wie magnetisch angezogen und saugte eine gute Weile lang. Dabei rannen ihm von den Lippen wundersamerweise einige Tropfen Milch. Als es sich beruhigt hatte, löste die Fischhändlerin es wieder von ihrer Brust, zwar unter Schmerzen, doch sehr zufrieden (schon lange war sie nicht mehr als Amme im Einsatz gewesen), und übergab es dem Behördenvertreter. Der Nachtwächter nahm das Bündel in beide Arme. Die Körperwärme des Winzlings erweichte ihm das Herz: Unverzüglich würde er ihn ins Krankenhaus bringen, und von dort aus würde man ihn, wenn er überlebte, in barmherzige Hände geben.
    In diesem Augenblick des Innehaltens entdeckten sie den kleinen weißen Zettel auf dem Bauch des Kindes, der, mit getrocknetem Blut festgeklebt, den Stumpf der Nabelschnur schützte und aussah wie ein Herstelleretikett. Darauf stand »Gabriel«.
    All das – Gabriels Geburt, Aussetzung und erste Mahlzeit – begab sich an einem Morgen im Oktober 1941. Unser Vater war überzeugt, dass es diese erste Milch war, der er sein zeitlebens unersättliches Verlangen nach Kabeljau verdankte. Er aß ihn, wann immer er konnte, aus der Dose oder al pil-pil mit Öl und Knoblauch, als esqueixada oder paniert oder mit Kartoffeln im Ofen gebacken. Hingegen empfand er Kuhmilch als salzig und konnte sie nur trinken, wenn er drei Löffel Zucker mit ins Glas gegeben hatte.
    Unsere Mütter erinnern sich, dass er, wenn er ihnen von seinen ersten Stunden auf der Welt erzählte, immer einen märchenhaften Ton anschlug, als könne er damit seiner eigenen Mutterlosigkeit und den Zeiten, die er später im Heim durchmachen musste, alle Härte nehmen. Um das Flair des Sagenhaften noch zu verstärken, zeigte er außerdem jedes Mal einen alten Zeitungsausschnitt, den er in der Brieftasche trug. Eine Meldung über das ausgesetzte Kind vor der Markthalle war in der Vanguardia Española erschienen. Natürlich legte der Redakteur den Schwerpunkt auf die packendsten Details; er hob vor allem die Effizienz der Behörden und das entschiedene Handeln
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher