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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Autoren: Jordi Punti
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Söhne desselben Vaters und sehr verschiedener Mütter. Vor einem Jahr kannten wir uns noch nicht. Wir wussten nicht einmal voneinander, dass es uns gab. Der Vater wollte, dass wir Christof, Christophe, Christopher und Cristòfol (beziehungsweise Cristóbal, bis zum Tod des Diktators Franco) heißen. So hintereinandergestellt wirken die Namen wie eine unregelmäßige Deklination. Christof, der germanische Nominativ, wurde im Oktober 1965 geboren und ist der unmögliche Erbe einer europäischen Dynastie. Christopher, der angelsächsische Genitiv, kam fast zwei Jahre später zur Welt und gab einer Londoner Existenz einen erweiterten oder neu nuancierten Sinn. Der Akkusativ Christophe ließ etwas weniger lange auf sich warten – neunzehn Monate – und wurde im Februar 1969 zum direkten Komplement einer alleinerziehenden französischen Mutter. Als Letzter manifestierte sich Cristòfol: ein Kasus des Umstands, ganz und gar von Ort und Zeit bestimmt, ein Ablativ in einer Sprache ohne Beugung.
    Warum gab unser Vater uns diesen Namen? Warum bestand er darauf so hartnäckig, dass alle Mütter sich schließlich überzeugen ließen? Wollte er etwa nicht, dass wir vier verschiedene Menschen sind? Jedenfalls hat keiner von uns noch andere Geschwister. Einmal befragten wir Petroli dazu, einen seiner beiden Kollegen bei den Umzugstouren (bei den Touren und bei den Geheimnissen), und der sagte uns, nein, wenn der Vater von uns sprach, habe er sich nie vertan und immer genau gewusst, wer von uns wer war. Wir vermuten, ein Aberglaube könnte dahinterstecken. Sankt Christophorus ist der Schutzpatron aller motorisierten Fahrer, und wir vier Söhne waren wie kleine Opfergaben, die unser Vater ihm in den verschiedenen Ländern hinterließ: entzündete Kerzen, die ihn auf seinen Reisen mit dem Lkw schützen sollten. Petroli, der ihn sehr gut kannte, hält von dieser Deutung nichts – unser Vater sei nie ein gläubiger Mensch gewesen – und verweist stattdessen auf eine noch abstrusere, aber ebenso glaubwürdige Möglichkeit: dass er ein Siegerblatt von Söhnen haben wollte. Vier Asse, sagt Petroli, eins von jeder Farbe. »Und welche Karte war er dann selbst?«, fragen wir. – »Er war der Joker. Der, der das Blatt unschlagbar macht, wenn er dazukommt.«
    »Life is very short, and there’s no time …«, beginnt Christopher ohne Ankündigung zu singen. Wir lassen ihn gewähren, weil der Satz gut passt und weil das Lied von den Beatles ist. In dieser musikalischen Vorliebe sind wir vier uns einig, allerdings werden wir nun nicht zu diskutieren beginnen, wer von uns George, wer Paul, wer Ringo, wer John ist. Solche Spielchen behalten wir für uns, und es wird auch nicht wieder vorkommen, dass einer von uns ohne vorherige Absprache mit einem Solo in unsern gemeinsamen Diskurs hereinplatzt. Wir sind hier nicht beim Karaoke, und es muss ein paar Regeln geben, an die wir alle uns halten. Würde jeder drauflosreden, wie es ihm in den Sinn kommt, wäre das hier wie ein Topf voller Grillen. Und Chris hat ja recht: Das Leben ist sehr kurz, und man hat keine Zeit.
    Was noch? Lässt sich, auch wenn wir nichts voneinander wussten, behaupten, unser Vater – oder vielmehr seine Abwesenheit – habe uns alle vier auf die gleiche Weise geprägt? Nein, natürlich nicht. Aber die Versuchung ist groß, sich solche unterirdischen Einflüsse zurechtzufantasieren. Nehmen wir zum Beispiel unsere Arbeit. Christof macht Theater, und dieses Gewerbe vom Sein oder Nichtsein, also wie ein Schauspieler in seine Rolle schlüpft, das erinnert uns an die Verstellungen unseres Vaters. Als Dozent für Quantenphysik an einer Pariser Hochschule zieht Christophe die sichtbare Wirklichkeit in Zweifel und studiert Paralleluniversen – in denen der Vater uns nie im Stich lassen würde. Christopher hat einen Stand auf dem Markt von Camden Town, er verdient seinen Lebensunterhalt mit dem An- und Verkauf gebrauchter Vinylschallplatten, und in den nicht immer ganz legalen Methoden, mit denen er an Sammlerjuwelen und musikalische Reliquien kommt, kann man ein Erbe der Schlitzohrigkeiten des Vaters sehen. Cristòfol ist Übersetzer aus dem Französischen, und wenn er einen Roman aus der einen Sprache in die andere bringt, ist das wie eine Verneigung vor den fremdsprachlichen Bemühungen unseres Vaters.
    Was noch, was noch? Sehen wir Brüder uns ähnlich? Ja, das tun wir. Man könnte sagen, dass uns allen dasselbe genetische Muster zugrunde liegt und dass unsere Mütter –
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