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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Autoren: Jordi Punti
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meinten, ein allmähliches und absichtliches war, konnte doch niemand ihn wiedererkennen. Niemand hatte ihn gestern oder vorgestern oder letzte Woche gesehen. Seine Abwesenheit musste für alle Welt etwas ganz Natürliches sein.
    Doch auch nachdem wir entschieden hatten, nichts damit anzufangen, gingen wir weiter die Fotos durch, denn das Spiel machte uns Spaß. Wir waren in Barcelona und breiteten all die Bilder auf einer Tischplatte aus. Dann betrachteten wir sie wie den Fotoroman eines unabgeschlossenen Lebens. Sie stammen aus den Sechziger- und Siebzigerjahren, manche schwarz-weiß, manche in diesen verblassten Farben, die alles unwirklich erscheinen lassen. Neben denen, die er uns mit den Briefen geschickt hatte, gab es die, die während seiner Besuche entstanden waren. Wir stellten fest, dass seine Haltung immer die gleiche war. Sein angestrengtes Lächeln – Cheeeeese, Hatschiiiii, Lluiiiiís –, die Art, wie er uns übers Haar strich, sofern wir mit auf dem Bild waren, oder wie er den Arm um die Mutter legte und seine Hand dabei immer auf dem gleichen Punkt ihrer Taille hatte …
    Zu sehen, wie wir da alle vier dasselbe Bild boten, wie wir alle vor der Kamera still standen, als würde uns nichts Wesentliches voneinander unterscheiden, empfanden wir zunächst als unangenehm und verstörend. Natürlich variierten die Hintergründe, natürlich auch wir, aber es kam zum Beispiel vor, dass der Vater auf allen Fotos einer Saison dieselbe Jeansjacke und dieselben Schuhe trug. Und noch etwas fiel uns auf, etwas, was uns anfangs erzürnte und später rührte. Oft war nämlich eine Aufnahme, die ihn allein zeigte und einem seiner Briefe beilag, in Wahrheit bei einem von uns zu Hause gemacht worden. Der Vater beschrieb diese Bilder so, dass die Mütter keinen Verdacht schöpften. Bestenfalls erfand er einen Ort irgendwo auf seinen Lkw-Fahrten. »Das Foto, das ich Euch schicke, hat Bundó in einem abgelegenen Winkel Frankreichs von mir gemacht, letzten September in einer Mittagspause«, schrieb er Ende 1970 in einem Brief an Christopher und Sarah, und der abgelegene Winkel in seinem Rücken war die weiße Fassade des Hauses am Quai de la Marne, in dem Christophe und Mireille wohnten. »Rast an einer Tankstelle in Deutschland, kurz hinter München«, schrieb er zu einem anderen Foto an Christophe und Mireille, doch Christof erkannte die Tankstelle wieder, sie lag in seiner Frankfurter Nachbarschaft. Außerdem stellten wir fest, dass wir von genau dem Film aus dem Jahr 1968 jeder mindestens ein Bild bekommen hatten, und auch das Wissen um diese Koexistenz im Innern der Kamera tröstete und amüsierte uns.
    Die Fakten legen natürlich den Schluss nahe, unser Vater sei ein zwanghafter Lügner gewesen. Ja, gewiss war er das, und doch glauben wir, dass wir es uns mit so einem Fazit zu leicht machen würden. Fürs Erste haben wir ohnehin kein Interesse daran, ihn zu verdammen – sondern wir wollen herausfinden, wo er ist. Wer er ist. Wenn uns das eines Tages gelingt, dann werden wir ihn schon zur Rede stellen. Bis auf Weiteres aber wollen wir ganz ohne Bewertungen in sein schattiges Leben eintauchen, nicht zuletzt, weil wir es doch ihm und seiner Abwesenheit verdanken, dass wir uns kennengelernt haben. Es mag schwer nachvollziehbar sein, aber anstatt uns zu empören, geben wir uns lieber einem völlig subjektiven Enthusiasmus hin – einer Täuschung, wenn man so will. Dieselben Fotografien, die er einst zur Fortsetzung seiner Lügen nutzte, dienen uns heute dazu, uns in der Vergangenheit zu verbrüdern. Wir gehen so weit, sie als Hinweise darauf zu betrachten, dass der Vater damals schon unsere Vereinigung als Geschwister vorhersah. Wieder eine Illusion, an die wir uns klammern können. Unser deduktives Verfahren mag nicht gerade wissenschaftlich sein, doch zumindest erlaubt es uns, den Fotos neues Leben einzuhauchen.
    Dass wir uns auf so ein Spiel einlassen, liegt auch an einer Gewissheit, zu der wir gelangten, als wir die Aufnahmen unseres Vaters auf dem Tisch anordneten. Beim Versuch, eine plausible Geschichte daraus abzuleiten, begriffen wir, dass er nie irgendetwas von sich selbst preisgegeben hat. Nicht den kleinsten Einblick hat er gewährt. Selten Gefühle gezeigt. Und auf einmal kamen uns die Fotos, aufgereiht, stumm und vergilbt, wie Bilder aus einem alten Spielfilm vor; Fotos, wie sie früher an den Kinos aushingen, um für die nächste Vorstellung zu werben. Du konntest lange dastehen und sie dir anschauen,
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