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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Autoren: Jordi Punti
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und haben da niemanden gefunden. Alles machte einen geordneten Eindruck. Sie können sich denken, dass die Nachbarn ein Haufen von Hysterikern sind. Die Frage ist nun, was Sie als nächster Angehöriger des Verschwundenen zu tun gedenken. Wollen Sie die Miete und die überfälligen Gebühren für ihn begleichen, während Sie ihn suchen, oder wollen Sie die Wohnung auflösen und seine Sachen mitnehmen?«
    Während Sie ihn suchen.
    »Wie sind Sie denn auf mich gekommen?«, war die einzige Frage, die ich zustande brachte.
    »Da mussten wir nicht lange ermitteln. Wir fanden Ihren Namen auf einem Zettel, der auf dem Nachttisch lag wie der Abschiedsbrief eines Selbstmörders. Es war aber kein Abschiedsbrief. Auf dem Zettel standen noch drei andere Namen, doch Ihrer war der einzige, den wir im Melderegister fanden.«
    Zwei Tage später, frühmorgens, damit ich das Tageslicht ausnutzen konnte, holte ich mir bei der Polizei die Wohnungsschlüssel ab. Der Beamte zeigte mir den Zettel. Die drei anderen Namen waren die der drei Christofs, aber da wusste ich natürlich noch nicht, wer sie waren oder dass es sich überhaupt um echte Namen handelte. Für mich sah das eher nach einem Sprachspiel aus. Die vier Mütter erwähnte der Vater auf dem Zettel nicht. Ich hatte meiner Mutter am Tag zuvor von der Sache erzählt und sie gebeten, mich zu begleiten, aber sie hatte mich überredet, alleine zu gehen.
    »Bist du nicht neugierig?«
    »Nein. Du erzählst es mir dann.«
    Wenn etwas sie erschreckt oder enttäuscht, war es schon immer ihre Art, völlig desinteressiert zu tun. So auch jedes Mal, wenn die Sprache auf meinen Vater kam.
    Die Wohnung, aus der Gabriel verschwunden war, liegt im ersten Stock eines Hauses im Carrer Nàpols, Ecke Almogàvers, ganz nah beim Parc de la Ciutadella. Ein hässlicher Bau aus den Fünfzigerjahren mit einer Autowerkstatt im Erdgeschoss. Man wisse, hatte mir der Polizeibeamte gesagt, dass mein Vater mehr als zehn Jahre lang unter dieser Adresse gelebt habe. Die Wahl überrascht mich nicht, wenn es sein Ziel war, sich zu verstecken. Mitte der Achtzigerjahre gammelte dieser Teil der Stadt halb verfallen vor sich hin; ein Niemandsland mit dem Charme eines aufgegebenen Gewerbegebiets. Der Nordbahnhof, noch unrenoviert, zerbröselte inmitten einer Brache voller Ratten und benutzter Kondome. Im Gerichtsgebäude wimmelte es morgens wie in einem Ameisenhaufen, aber es schloss am frühen Nachmittag und sank dann in einen drückenden, dämmrigen Halbschlaf. In diesem Abschnitt des Carrer Almogàvers gab es sonst nur Werkstätten und Speditionshallen, und die Lastwagen verpesteten alles mit ihrem Dieselgestank. Vielleicht, denke ich jetzt, zog Gabriel hierher, weil er den Geruch mochte. Die Einzigen, die ein wenig Leben in das Viertel brachten, waren die Transvestiten, wenn sie abends an den Straßenecken Position bezogen. Im gelben Laternenlicht staksten sie mit grell geschminkten Gesichtern in ihren Stöckelschuhen und hautengen Kleidern auf und ab wie Zombies, versuchten Kunden anzulocken, die im Auto ihre Runden drehten, und schickten jeden, der nicht hielt, mit einem untoten Schrei zum Teufel.
    Ganz in der Nähe, an einer Sprachschule am Passeig de Sant Joan, gleich beim Triumphbogen, besuchte ich zu der Zeit Englischkurse. Nun denke ich oft, dass ich an einem dieser Winterabende, wenn ich mir noch in der Bar Lleida die Zeit bis zum Unterrichtsbeginn vertrieb, meinem Vater hätte begegnen können. Zwei neutrale Blicke, die sich für eine Sekunde kreuzen, gleich wieder trennen, und jeder geht zurück in seine eigene Welt. Gut möglich, dass das passiert ist, und der Gedanke erfreut mich nicht besonders.
    Ich schloss die Tür zu der Wohnung mit notarieller Kühle auf. Ich gebe zu, dass ich mir nicht wirklich überlegt hatte, was ich dort wollte. Mich ein bisschen umsehen, vielleicht zufällig irgendeinen Hinweis darauf finden, wo Gabriel (Vater nannte ich ihn längst nicht mehr) abgeblieben war, dann das Ganze so schnell wie möglich wieder vergessen. Ich hatte nicht die geringste Lust, nach ihm zu suchen, geschweige denn seine Miete zu zahlen.
    Beides habe ich dann ja doch getan.
    Obwohl die Wohnung kalt und muffig war, fand ich sie von Anfang an heimelig und ging mit einem erleichternden Gefühl von Nähe durch die Räume. Ich muss diese Auffassung von Behaglichkeit wie eine genetische Prägung in mir getragen haben. Als hätte ich es schon tausendmal getan, zog ich eine Jalousie im Esszimmer hoch, und ein
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