Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Autoren: Jordi Punti
Vom Netzwerk:
verheiratet, also tragen wir nur ihren Nachnamen. Manchmal machen wir uns aber den Spaß, einander, in unsere jeweilige Sprache übersetzt, bei dem Nachnamen zu nennen, den wir vom Vater abbekommen hätten. Chris könnte Christopher Cross heißen, wie der amerikanische Sänger, oder auch Chris of the Cross, was noch weltläufiger klänge – wie der Name eines Zauberers in Las Vegas. Christof wäre ein von Kreuz, wobei man an einen Oberst aus dem Deutschen Kaiserreich denken würde, und Christophe hätte den Nachnamen eines Malers aus dem Louvre: Delacroix. Am treuesten würde sich Cristòfol zeigen, der entweder ein Delacruz bliebe, wie der heilige Mystiker Juan, oder sich allenfalls zu Delacreu katalanisieren ließe.
    Die meisten Waisen, die im Geburtskrankenhaus aufgepäppelt und dann in die Casa de la Caritat übergeben wurden, trugen irgendeine Variante derselben Nachnamen wie unser Vater. Als wären sie auf ihre Art Geschwister. Doch der Einzige unter ihnen, von dem Gabriel wirklich wie von einem leiblichen Bruder sprach, war Bundó. Sie waren so gut wie gleich alt, unser Vater hatte Bundó wenige Wochen voraus, und sie wuchsen zusammen auf. Ihre Freundschaft hielt ein ganzes Leben lang, sie überdauerte die Tyrannei des Kinderheims ebenso wie die Tyrannei der Umzugsfahrten, und nur ein schreckliches Unglück vermochte die beiden zu trennen. Wie es so ist im Leben, wird irgendwann auf den Seiten, die wir hier füllen, von den Einzelheiten dieses für eine ganze Reihe von Menschen verhängnisvollen oder schicksalhaften Unglücks die Rede sein müssen.
    Getragen von der gemeinsamen Erinnerung der beiden Freunde, könnten wir uns nun in die labyrinthischen Flure des Armenhauses zurückversetzen, wo ein kleiner Junge an der Hand einer Nonne, die nach Kerzenwachs riecht, über die mit Zotal desinfizierten Bodenfliesen trippelt. Wir könnten dabei sein, wenn die Waisen nachts ausbüchsen, wenn sie ihre Abenteuer erleben und bestraft werden, wir könnten uns ausmalen, wie rau sich ihre alten weitergereichten Kleider anfühlen, wir könnten bewundern, mit welcher Gewitztheit sie lernen, allein zurechtzukommen.
    Aber fürs Erste, damit alles mehr Sinn und Zusammenhang ergibt, wollen wir ein halbes Jahrhundert später einsetzen; und ohne uns von Barcelona wegzubewegen – als wären all die Reisen unseres Vaters bloß ein Gewirr von Strichen auf einer Europakarte –, treten wir in die Wohnung ein, in die er sich für mehr als ein Jahrzehnt zurückzog.
    Cristòfol hat das Wort.
    »Moment bitte«, wirft Christof ein. »Ich finde, wir sollten diesem Teil einen eigenen Titel geben. Schön feierlich.«
    Cristòfol hat das Wort.
    Carrer Nàpols
    Also gut. Ich bin jetzt dreißig Jahre alt, und es ist siebenundzwanzig Jahre her, dass ich meinen Vater zuletzt gesehen habe. So ein Satz könnte nach großer Tragödie klingen, wenn ihn eins dieser Weicheier sagen würde, die im Fernsehen ihre Familiendramen ausbreiten. In meinem Fall ist er aber nichts weiter als die Feststellung eines Zeitraums. Eben weil wir, wie schon erklärt, so sehr an seine Abwesenheit gewöhnt waren, muss die Rechnung dazu dienen, mein Erstaunen – um nicht zu sagen: meinen Schock – verständlich zu machen, als ich nach all der Zeit wieder ein Lebenszeichen von ihm erhielt. Mit Lebenszeichen meine ich etwas Banales und Vages, nämlich dass ich einen Ort, an dem er gewesen war, auf dem Stadtplan von Barcelona markieren konnte. Der Anruf von der Polizei kam an einem ganz normalen Morgen. Ein Beamter stellte sich vor und fragte, ob ich Herrn Gabriel Delacruz Expósito kenne. Ein paar Sekunden lang musste ich überlegen, ich hörte mich den Namen sogar laut wiederholen.
    »Ja, er ist mein Vater«, sagte ich. »Aber wir haben ihn seit vielen Jahren nicht gesehen und auch nichts mehr von ihm gehört. Wir hatten ihn schon ganz vergessen.«
    »Verstehe. Ich muss Ihnen mitteilen, dass wir ihn nun offiziell als vermisst führen. Vermisst, wohlgemerkt, das heißt nicht unbedingt, dass er tot ist. Aber seit einem Jahr fehlt von Ihrem Vater jede Spur. Seine Miete und auch die anderen Kosten für die Wohnung hat er nicht mehr bezahlt. Gas, Wasser und Strom sind längst abgeschaltet. Der Eigentümer wollte wissen, wo sein Geld bleibt, und hat uns deshalb verständigt. Zur gleichen Zeit wandten sich auch die Nachbarn an uns, da sie seit einigen Tagen einen Verwesungsgeruch im Treppenhaus bemerkt haben wollten. Wir haben das ernst genommen, sind in die Wohnung gegangen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher