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Die Inselvogtin

Die Inselvogtin

Titel: Die Inselvogtin
Autoren: Sandra Lüpkes
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Und außer dir weint ihr kein Mensch eine Träne nach.«
    »Du bist so hundsgemein. Wie kann man nur so bösartig sein? Warum beschimpfst du Geeschemöh und brichst sogar ein Versprechen, das du per Handschlag besiegelt hast? Sie hat dir doch nichts getan.«
    »Nichts getan?«, höhnte Weert.»Wegen ihr sind sie alle ersoffen vor fast zwölf Jahren. Dein Vater, mein Vater, deine Brüder, meine Brüder … «
    »Das war doch nicht Geeschemöhs Schuld!« Maikea schrie jetzt beinahe.
    »Doch. Sie war eine Hexe. Sie hat damals einen Fluch über die Inselbewohner gesprochen. Sie und dieser verdammte Elias Thielen.«
    »Das ist nicht wahr!« Maikea schüttelte den Kopf hin und her, wobei sich einer ihrer Zöpfe löste und ihr das blonde Haar ins Gesicht fiel.
    »Und wenn ich dich so anschaue, Maikea Boyunga, dann könnte ich glauben, du bist auch eine von der Sorte. Pass auf, dass du nicht eines Tages … «
    »Hör damit auf, Weert Switterts!«, unterbrach ihn eine tiefe Stimme, die vom Dünenrand herüberschallte. Es war Pastor Altmann, der auf einen Stock gestützt mit mühsamen Schritten auf sie zukam.
    Sofort ließ Weert sie los. Schnell nutzte Maikea die Gelegenheit, ihrem Widersacher einen kräftigen Tritt gegen das Schienbein zu verpassen.
    »Und du auch, Maikea Boyunga! Ihr sollt augenblicklich voneinander ablassen!« Obwohl der Inselpastor schon beinahe achtzig Jahre alt war und sich nur noch krumm und schwerfällig bewegen konnte, hatte seine Stimme nichts von ihrer Gewaltigkeit eingebüßt. Seine Worte waren für alle Insulaner nach wie vor Gesetz.
    »Maikea, dich suche ich. Du musst sofort nach Hause kommen.«
    »Was? Aber warum?«
    »Es ist wegen deiner Mutter.«
    Während sie auf den alten Mann zulief, hatte Maikea das Gefühl, ihre Arme und Beine seien mit schwerem Sand gefüllt. War der Moment gekommen? Der Augenblick, den sie schon seit Tagen fürchtete? Vielleicht sogar seit Wochen, Monaten. Im Grunde genommen hatte sie schon, seit sie denken konnte, damit gerechnet, dass eines Tages der Pastor nach ihr rief, um ihr zu sagen, dass es mit ihrer Mutter zu Ende ging.
    Von den Menschen auf Juist wusste Maikea, dass Imke Boyunga einmal eine schöne, edle Frau gewesen sein musste. Doch seit Maikeas Geburt in dieser schicksalhaften Nacht wäre sie nur noch ein Schatten ihrer selbst. Bleich wie der Muschelkalk, mit dem man ihre Kate verputzt hatte.
    Ihre Mutter sprach nur selten, und wenn, dann waren ihre Worte fast unhörbar. Sie wollte etwas gegen den Durst oder den Hunger, bat darum, gewaschen zu werden, oder fragte nach Maikeas Vater und ihren Brüdern, die vor elfeinhalb Jahren ebenfalls ums Leben gekommen waren. Kein Mensch in der Gemeinde hatte damit gerechnet, dass die Frau des Inselvogtes so lange leben würde. Und doch hatte sie so manchen eiskalten Winter überstanden, mehreren Sturmfluten und Krankheitswellen getrotzt. Maikea war sich sicher: Den Verdienst daran trugen Geeschemöh und ihre Kräuter.
    Seit jener Weihnachtsflut hatte die Alte bei ihnen im Haus gelebt. Mit ihrem Tod war auch aus Imke Boyunga das Leben verschwunden. Ein paar Frauen halfen Maikea zwar bei der Pflege, aber seit dem letzten Sommer hatte das Mädchen jeden Tag damit gerechnet, den Pastor rufen zu müssen – oder von ihm gerufen zu werden.
    Jetzt stand er ihr gegenüber und legte seine Hand auf ihre Schulter. Maikea verbrachte gern ihre Zeit bei dem alten Gottesmann, der gleichzeitig auch ihr Schulmeister war. In der kleinen Pastorei brachte er den Kindern der Insel das Lesen der Bibel bei. Und denjenigen, die es sich leisten konnten, auch das Rechnen und Schreiben. Maikea war bei diesem Zusatzunterricht das einzige Mädchen, denn die meisten glaubten, dass sich das Lernen nur bei den Jungen lohnen würde. Wären Maikeas Brüder noch am Leben, hätte sie wahrscheinlich auch keinen Tag länger als nötig die Schulbank drücken dürfen. Mit ihren fast zwölf Jahren war sie ohnehin eines der ältesten Kinder. Doch Pastor Altmann wollte ihre Wissbegierde nicht unbefriedigt lassen. Immerhin war ihr Finger am häufigsten oben, und im Gegensatz zu einem Weert Switterts hatte sie schon längst verstanden, wie man die Flächen von Kreisen und den Umfang von Dreiecken ermitteln konnte. Es war nicht zu übersehen, dass Maikea des Pastors Lieblings-Schülerin war. Häufig ging er mit ihr über die Insel, um ihre Fragen zu beantworten.
    Weil sie ihn so gut kannte, konnte sie auch den Blick seiner grauen Augen deuten. Die Falten in seinem
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