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Die Inselvogtin

Die Inselvogtin

Titel: Die Inselvogtin
Autoren: Sandra Lüpkes
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sich gerissen, um so gewaltig, so groß und Furcht einflößend zu werden, deswegen war der Hammrich plötzlich so trocken gewesen.
    Tasso hörte die Schreie der anderen, die jetzt in Panik auseinanderstoben, doch er konnte sie kaum noch verstehen. Er blickte sich um. Wohin sollte er rennen? Er war mitten auf dem Hammrich, es gab nichts, woran er sich hätte festhalten können.
    Da erblickte er einen Kasten aus Holz. Es war eine riesige Kiste, die weiter südlich im Priel schaukelte. Tasso lief darauf zu. Als er näher kam, erkannte er in der Dämmerung die schmuckvollen Ornamente und Verzierungen-im Holz.
    Das unheimliche Grollen war jetzt ganz nah. Wenn er dieses Ding erreichte, dann … vielleicht … Er musste es schaffen!
    Tasso streckte die Hände aus und erkannte, was es war. Am liebsten hätte er geheult vor Glück, denn es war ein Kapitänsstand. Der Kapitänsstand des gesunkenen Schiffs!
    Mit aller Kraft krallten sich seine Finger in die Fugen. Seine Füße stemmte er gegen die Wand. Von allen Seiten schoss jetzt Wasser hinein. Alles geriet in Bewegung. Der Unterstand erzitterte, löste sich kurz vom Boden und prallte wieder zurück in den Sand.
    Fast fühlte Tasso sich hochgehoben, als würde eine unsichtbare Hand unter ihn greifen, unter das Holz, an welchem er wie festgewachsen hing. Schemenhaft nahm er seine Arme wahr, erkannte an der langsamen, unwirklichen Bewegung, die sein schwebendes Hemd machte, dass er bereits im grauen Wasser schwamm.
    Das Meer wirbelte alles herum. Tasso schluckte, saugte gierig nach Luft und bekam wieder Salzwasser in den Hals.
    Der Kapitänsstand hatte sich gewendet, und was vorhin noch ein Dach gewesen war, befand sich nun unten. Es dauerte wertvolle Augenblicke, bis Tasso begriff, dass er nun darin schwamm.
    Vorsichtig blickte er über den Rand, so als zwinge ihn diese übermenschliche Macht, die ihn eben in seinem Versteck gehalten hatte, nun dem Schicksal ins Auge zu blicken.
    Ringsherum war nichts als Schaum, weiß glänzende Gischt vor einem tiefen, grauschwarzen Abgrund. Der Kapitänsstand schwebte auf dem höchsten Kamm einer Welle, eine Welle, die ihn über die Insel trug.
    Vor sich erkannte Tasso plötzlich die Kate seiner Mutter mit dem faserigen Strohdach, daneben die Kirche aus Stein. Doch noch nie hatte er die vertrauten Gebäude aus diesem Winkel gesehen. Von oben, wie eine Möwe sein Zuhause sonst betrachtet haben mochte, konnte er für einen kurzen Moment alles überblicken.
    Dann sah er, wie das Wasser sein Zuhause fraß, wie es das Dach der Kate verwirbelte, als wäre es ein federleichtes Nichts. Er erkannte ein paar menschliche Gestalten, beobachtete ein verzweifelt strampelndes Rind. Alles wurde verschluckt.
    Und auf einmal klangen die Worte seiner Mutter in seinen Ohren wider, die Prophezeiung des Predigers, das leiernde Gebet:
    »- … in einer Nacht, die das Weltenheil verspricht, wird Gott selbst gegen die Regeln verstoßen und sie alle verschlucken, als wären sie nichts weiter als Sandkörner im Fluge des Sturms.«
    Sie würden alle sterben. Auch er.
    Und obwohl er dem Tod so nah war, graute Tasso mit einem Mal nicht mehr davor. Plötzlich war er stark. Doch seine Mutter würde dies wohl nie erfahren. Es würde keinen Moment mehr geben, in dem sie stolz auf ihn sein könnte. Denn er würde sie nie wieder sehen.
    Die Welle spülte ihn fort, die Insel lag bereits hinter ihm.»Mutter «, dachte er noch einmal.
    Dann ritt Tasso Nadeaus auf der Welle und vergaß alles, was ihm bislang wichtig erschienen war. Er war oben. Ganz oben.

TEIL 2

     
    Frühjahr 1729

1
    M it zehn Schritten Anlauf wollte sie es schaffen. Maikea Boyunga atmete tief durch. Zehn Schritte mussten reichen für den Sprung über den Priel. Sie hatten gewettet, Weert Switterts und sie. Wenn es ihr gelang, mit einem Satz über das Wasser zu kommen, musste er zurücknehmen, was er über Geesche Nadeaus gesagt hatte.
    Sie lief los.
    Der Priel war breiter, als sie groß war. An den Rändern verästelt wie ein Baum. Das hereinströmende Wasser formte Wellen in den graubraunen Sand. Weert Switterts selbst hatte sich nasse Füße geholt, als er vorhin gesprungen war. Maikea hatte lachen müssen. Über seine triefende Hose, aber in erster Linie über seinen schweren, breiten Körper, der bei dem missglückten Versuch ausgesehen hatte, als versuche sich des Pastors dickste Milchkuh im Weitsprung. Leider hatte Maikea nicht heimlich und leise lachen können, so etwas lag ihr einfach nicht, es war
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