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Die Inselvogtin

Die Inselvogtin

Titel: Die Inselvogtin
Autoren: Sandra Lüpkes
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Liebchen des verrückten Pfaffen. Und du bist das kleine Andenken, das er ihr hinterlassen hat, bevor er abgehauen ist! Kein Wunder, dass du ebenso wirres Zeug daherredest.«
    Tasso schwindelte. Er hatte höllische Schmerzen und konnte einen kurzen Schrei nicht unterdrücken.
    »Lass ihn los, sofort!«, befahl der Inselvogt.»Er ist doch noch ein Junge!«
    Bauer Switterts gehorchte nicht ohne Widerwillen.
    Als Tasso den Boden unter den Füßen spürte, rannte er los. Nicht Richtung Norden, wie die anderen, nein, er wollte zur Kirche, er wollte schauen, ob er dort vielleicht noch einen Menschen fand, der mutig genug wäre, zum Köper Sand zu fahren. Und wenn nicht, dann würde er es eben allein versuchen. Aber er wollte keinen Moment mehr mit diesen Feiglingen hier verbringen. Und er wollte keine Lügen mehr hören über seine Mutter und diesen Elias Thielen, der angeblich sein Vater sein sollte. Diese Insulaner waren bösartig und gemein. Aber vor allem waren sie feige. Er wollte nie wieder zu ihnen gehören.

5
    B leibt nicht stehen, Kinder!« Die Befehle des Inselvogtes wurden vom Tosen des Sturmes verschluckt.»Männer, lasst das Treibholz liegen, wo es ist. Wir können es morgen sammeln. Wir müssen uns beeilen! Das Wasser steigt schnell.«
    Aus der Entfernung hörte Tasso noch die Kinder schreien. Tatsächlich hatte sich die Flut weiter vorgearbeitet. Vor wenigen Minuten hatte das Salzwasser ihm erst bis zum Knöchel gestanden, und nun umspielten die Wellen, die von Norden heranrollten, bereits fast seine Knie. Eine solche Geschwindigkeit der Fluten hatte er noch nie erlebt. Als könne man dem Wasser beim Ansteigen zuschauen! Was für ein Spiel trieb das Meer heute bloß mit der Insel?
    Die Kälte stieg immer weiter hinauf. Tasso zitterte am ganzen Körper. Das Wasser war im Dezember unbarmherzig eisig, und der nasse Stoff seiner Hose saugte die Feuchtigkeit auf und erschwerte jeden Schritt. Trotzdem rannte Tasso jetzt, als ginge es um Leben und Tod.
    Von den anderen Juistern vernahm er nur noch die Rufe, die immer gellender und schriller klangen, und es war nicht mehr auszumachen, ob sie einer kindlichen oder einer erwachsenen Kehle entsprangen.
    Doch mit einem Mal spürte Tasso, wie sich das Meer beruhigte. Es stieg nicht weiter an, im Gegenteil. Es erschien Tasso, als hätte die Flut ihr Versehen bemerkt und versuchte nun, ihr zu schnelles Auflaufen wieder rückgängig zu machen. Das ablaufende Wasser versickerte im Sand, das Treibholz um ihn herum knirschte, als es tiefer in den Boden sackte. Tasso blieb stehen.
    Obwohl der Wind weiterhin wehte, war es still, fast unheimlich still. Die Bedrohung schien so plötzlich verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Selbst der breite Priel war leer gelaufen. Aber nicht mal bei Niedrigwasser zeigte sich der Hammrich so unbedeckt und trocken.
    Das war seltsam. Das war teuflisch, fand Tasso.
    Weiter entfernt waren auch die Kirchgänger stehen geblieben. Sie hatten vorhin ein gutes Dutzend Fackeln dabeigehabt. Nun trugen nur noch zwei Männer ein Feuer, der Rest stand im Dunkeln.
    »Es ist vorbei!«, rief eine Frau schließlich aus, und in der plötzlichen Stille waren ihre Worte zu hören, als stünde sie neben Tasso.»Was immer das auch war, es ist wieder ins Meer zurückgeflossen.«
    Doch Tasso mochte sich nicht mit ihr freuen. Er überlegte kurz, ob er zu den anderen zurückkehren sollte. Aber irgendetwas hielt ihn zurück. Es war Zeit, von hier zu verschwinden.
    Dann hörte er das Donnern. Erst dachte er, das Dröhnen säße nur in seinem Kopf, denn es war ein Geräusch, wie er es noch nie vernommen hatte. Es schien nicht von dieser Welt zu kommen, war tausendfach gewaltiger als die Kanonenschüsse und breitete sich plötzlich aus wie das Brüllen eines Ungeheuers. Der Boden vibrierte, die Insel erbebte unter seinen Füßen.
    Tasso blickte aufs dunkle Meer. Und plötzlich sah er etwas Großes, etwas Mächtiges, von dem er keine Ahnung hatte, was es sein konnte. Er spürte, wie sich die Angst in seinen Armen und Beinen breitmachte.
    Wenn das, was da heranrollte, die Strafe Gottes war, dann durfte sie ihn nicht treffen. Die feigen Juister, die nur an ihren eigenen Vorteil dachten, ihnen galt der Zorn des Allmächtigen. Aber er, Tasso Nadeaus, wollte der Gefahr trotzen. Er hatte ein solches Todesurteil nicht verdient.
    Das Meer hatte sich zu einer Mauer erhoben. Und mit einem Mal verstand Tasso: Diese Welle hatte in den stillen Minuten alles Wasser gesammelt, hatte es an
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